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Das Buch
Unverhofft kommt oft: Mit Egils Levits sollte nach der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen ein Exil-Lette zum ersten Botschafter Lettlands in Deutschland werden, der damit selbst eigentlich nicht wirklich gerechnet hatte. „Ich habe einen Anruf vom Außenminister Jānis Jurkāns erhalten, in dem er mir mitteilte, dass ich zum Botschafter in Deutschland ernannt worden sei – ohne mein Wissen“, erzählt Levits 2021 als lettischer Staatspräsident. Der in der Bundesrepublik ausgebildete Jurist war zwar bereits zuvor als Berater des lettischen Außenministeriums tätig gewesen – und hatte in dieser Funktion auch an der Zeremonie zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Staaten am 28. August 1991 in Bonn teilgenommen.
Dennoch kam die Ankündigung für ihn aus heiterem Himmel. „Ich habe das so nicht erwartet und war durchaus etwas überrascht“, erinnert sich Levits. Seine Bitte nach etwas Bedenkzeit blockte Jurkāns zunächst ab. Schließlich sei die Ernennung bereits erfolgt. „Ich habe dann aber doch ein paar Tage zum Nachdenken erhalten und am Ende ‚Ja’ gesagt.“ Ähnlich wie in Deutschland wurden auch die Botschaftsposten in anderen Ländern, wie etwa den USA, Großbritannien, Frankreich und Schweden mit dort bereits lebenden Exil-Letten oder Bürgern lettischer Abstimmung besetzt. „Diese Entscheidungen wurden aus sehr pragmatischen Gründen getroffen. Allein schon aus finanziellen Gründen war es damals für Lettland kaum möglich, jemanden zu entsenden“, erzählt Levits. Deshalb setzte man jeweils auf Landsleute vor Ort.[1]
Nach seiner Zusage wurde Levits zunächst zum Geschäftsträger und lettischen Bevollmächtigen im baltischen Informationsbüro in Bonn ernannt, wenig später übergab er am 9. Juli 1992 sein Beglaubigungsschreiben an Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Das Schreiben hatte er drei Tage zuvor vom damaligen lettischen Staatsoberhaupt Anatolijs Gorbunovs in Riga erhalten. Für Lettland als kleines Land sei die Außenpolitik ein sehr wichtiger Bereich, betonte Levits nach Erhalt des Dokuments vor der lettischen Presse. Die Beziehungen zu Deutschland nähmen dabei einen besonderen Platz ein. „Dieses Land hat in der Geschichte Lettlands immer eine große Rolle gespielt“, sagte er nach einem Bericht der Tageszeitung Diena.[2]
Zweite Heimat Deutschland
Diese Aussage traf auch auf ihn persönlich zu: Zum Zeitpunkt seiner Ernennung hatte Levits den größten Teil seines Lebens in der Bundesrepublik verbracht, in die er 1972 mit seinen Eltern ausgewandert war. „Deutschland hat mich und meine Familie aufgenommen, nachdem wir Lettland wegen des sowjetischen Besatzungsregimes verlassen mussten“, schildert Levits seine Lebensgeschichte. Als damals 17-Jähriger besuchte er das lettische Gymnasium in Münster, an das er später auch noch einmal als Lehrer zurückkehrte und die Fächer Politik und Geschichte unterrichtete. Die auch von der Bundesregierung geförderte Schule war damals das wichtigste Zentrum der lettischen Kultur und Bildung in der freien Welt.
Nach seinem Abitur in Münster studierte Levits zunächst in Hamburg Chemie, später dann Jura und Politikwissenschaften. „Ich bin, wie man so sagt, ein deutscher Volljurist“, umschrieb sich der lettische Staatschef selbst einmal.[3] Dies verbindet ihn mit seinem langjährigen deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier, zu dem Levits ein enges und freundschaftliches Verhältnis pflegt. Beide hegen bis heute eine gewisse Faszination für die Rechtswissenschaft und betonen regelmäßig die Bedeutung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit. Bei ihren Treffen sprachen sie häufig länger miteinander, als es im straffen Zeitplan ursprünglich vorgesehen war.
Jura und Politik als verbindende Elemente Auszug aus der Tischrede von Frank-Walter Steinmeier anlässlich eines Mittagessens mit den Staatspräsidenten Lettlands, Estlands und Litauens am 16. September 2021 im Schloss Bellevue in Berlin: „Uns beide, lieber Egils Levits, verbindet der akademische Werdegang, das Jurastudium. Es gibt meines Wissens kein anderes ausländisches Staatsoberhaupt, das zwei deutsche Staatsexamen in der Tasche hat und an einem Oberlandesgericht tätig war. Meine Büroleiterin stöhnte jedenfalls nach unserem letzten Gespräch: Da haben sich ja zwei gefunden! Ich finde, es gibt kein schöneres Kompliment für eine inhaltsreiche Diskussion.“[4] |
Sein Rechtsreferendariat absolvierte Levits im hohen Norden am Oberlandesgericht Schleswig-Holstein in Kiel, das ihn an verschiedene Dienststellen entsandte – darunter auch an den wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages in Bonn und den Bundesverband der Deutschen Industrie in Köln.[5] Das Gericht bestellte ihn 1988 auch zum vereidigten Lettisch- und Russisch-Übersetzer.[6] Im Bundestag befasste sich Levits damals mit dem von der Sowjetunion verleugneten geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt und erstellte ein völkerrechtliches Gutachten dazu. Darin kam er zu dem Schluss, dass es von Deutschland formell nicht gekündigt werden muss, da das unheilvolle Abkommen wegen des Verstoßes gegen das Völkerrecht von Anfang an nichtig war. Eine Kopie des Gutachtens aus dem Archiv des Bundestags wurde Levits im November 2022 bei einem Deutschland-Besuch als lettischer Staatspräsident von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überreicht.
Levits beendete sein Studium mit dem Großen Juristischen Staatsexamen, das er am 3. Februar 1989 vor dem Gemeinsamen Juristischen Prüfungsausschuss der Bundesländer Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein ablegte. Dies sollte ihm später Mitte der 1990er seine juristische Karriere auf internationalem Parkett ermöglichen: Bis zu seiner Wahl zum lettischen Staatspräsidenten im Mai 2019 war Levits unter anderem Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (1995-2004) sowie Richter am Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg (2004-2019). Weiter war er als Schlichter am Vergleichs- und Schiedsgerichtshof innerhalb der OSZE und als Mitglied des Ständigen Schiedshofs tätig.
Akademischer Kämpfer für die lettische Unabhängigkeit
Zu seinen akademischen Lehrern und Mentoren wurden die beiden renommierten deutsch-baltischen Professoren Dietrich A. Loeber (1923-2004) und Boris Meissner (1915-2003), deren wissenschaftliche Tätigkeit stark von ihrem Interesse an der Sowjetunion und den baltischen Staaten geleitet war. Levits war von 1984 bis 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der von Loeber geleiteten Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel, später von 1989 bis 1991 unter Meissner wissenschaftlicher Referent am Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung an der Universität Göttingen. In der niedersächsischen Universitätsstadt war er zudem seit 1989 auch als Rechtsanwalt zugelassen. Parallel dazu reiste Levits bereits wieder regelmäßig nach Lettland und beteiligte sich an der Unabhängigkeitsbewegung, mit deren Anfängen er sich als Politologe bereits in seiner 1986 verfassten Diplomarbeit beschäftigt hatte: „Der politische Konflikt zwischen den Selbstbestimmungsbestrebungen und dem sowjetischen Herrschaftsanspruch in Lettland: Eine regionale Fallstudie zur sowjetischen Nationalitätenpolitik“ – so lautete der Titel der Arbeit.
„Professor Meissner gab mir große Freiheit, um mich in Lettland zu engagieren. Das war sehr wichtig. Nicht viele andere hätten das wohl in dieser Form so mitgemacht“, erzählt Levits mit erkennbarer Hochachtung. Meissner aber sei ein „Patriot der baltischen Staaten“ gewesen und habe ihn unterstützt und ermutigt, sich in seinem Heimatland einzubringen. „Etwa zweimal im Monat bin ich für eine Woche nach Lettland gereist. Wenn immer ich da sein musste, war ich dort – auch für längere Zeit.“ Möglich machte dies nicht zuletzt auch sein deutscher Pass, den er 1985 nach dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Damit konnte er die beschränkten Möglichkeiten zur Einreise in die Sowjetunion optimal nutzen.[7]
„Ein wenig deutsch geworden“ Für Egils Levits ist Deutschland nicht nur ein Land, mit dem er viele Erinnerungen verbindet, sondern auch eines, das ihn geprägt hat. „Deutschland ist mir sehr gut bekannt und ans Herz gewachsen. Und ich glaube auch, dass ich durch meinen langjährigen Aufenthalt ein wenig deutsch geworden bin“, bemerkte er einmal in einem Interview. Dies drücke sich durch „Diszipliniertheit, Verantwortungsbewusstsein und auch eine demokratische Grundeinstellung“ aus. „Deutsch ist meine zweite Sprache nach Lettisch und ich freue mich jedes Mal, nach Deutschland zu kommen.“[8] Ein sichtbares Zeichen seines Deutschseins war auch sein deutscher Pass, den er nach Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft 1985 erhalten hatte. Zuvor hatte er einen deutschen Fremdenpass und verfügte auch über einen von der lettischen Botschaft in London ausgestellten lettischen Pass. Aus deutscher Sicht konnte dieser aber nicht anerkannt werden, da Lettland nur de jure, aber nicht de facto existierte, erinnert sich Levits. Nach der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands im August 1991 ging Levits zurück in sein Heimatland, registrierte sich als lettischer Staatsbürger – und verlor damit automatisch seine deutsche Staatsangehörigkeit. Denn das deutsche Recht kannte damals noch keine doppelte Staatsbürgerschaft. Und um lettischer Botschafter in Bonn zu werden, hätte er ohnehin darauf verzichten müssen.[9] |
Die Unterstützung von Boris Meissner kam nicht von ungefähr. Der deutsch-baltische Rechtswissenschaftler zählte zu den renommiertesten Experten in Deutschland auf dem Gebiet der Erforschung der osteuropäischen Zeitgeschichte und Politik. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er als Mitarbeiter des Auswärtigen Amts maßgeblich an der Formulierung des territorialen Vorbehalts beteiligt, den Bundeskanzler Konrad Adenauer im Namen der Bundesregierung bei seinem Moskaubesuch 1955 bei den Verhandlungen über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion einlegte. Damit wurde die Nichtanerkennung der Einverleibung der baltischen Staaten in die Sowjetunion festgeschrieben. Der Vorbehalt wurde von Meissner als damaligem Leiter des Länderreferats Sowjetunion vorgeschlagen. Diese Linie wurde auch von seinem Stellvertreter und Nachfolger Berndt von Staden fortgeführt.
„Wesentlich war, dass die Nichtanerkennungspolitik es der deutschen Seite ermöglichte, bestimmte gesellschaftliche Aktivitäten der in der Bundesrepublik lebenden Letten zu fördern“, schrieb Meissner einmal in einem Beitrag.[10] Deren Interessen wurden bis zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen von inoffiziellen Vertretern wahrgenommen – zuerst von Roberts Liepiņš (1890-1978) und Ādolfs Šilde (1907-1990), später dann von dem 1947 geborenen Andrejs Urdze. Sie waren in gewisser Weise die Vorgänger von Levits, der auch bei der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens am 9. Juli 1992 als Botschafter auf seinen früheren Forschungsleiter angesprochen wurde. „Der Bundespräsident hatte offensichtlich zuvor bereits meinen Lebenslauf gelesen, erwähnte meine wissenschaftliche Tätigkeit und kam dann direkt auf Boris Meissner zu sprechen“, erinnert sich Levits an das Gespräch mit von Weizsäcker.[11]
Prägung des lettischen Verfassungs- und Rechtswesens
Im Unabhängigkeitskampf brachte Levits sein geballtes juristisches Wissen in die Ausgestaltung der rechtlichen Grundlagen des neu aufzubauenden lettischen Staates und dessen Rechtswesens ein. Er gehörte zu den Mitautoren der lettischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Mai 1990, später war er als Berater des lettischen Parlaments für Fragen des internationalen Rechts, des Verfassungsrechts und der Gesetzgebungsreform tätig. Auch das lettische Außenministerium unterstützte er in den Zeiten des Umbruchs mit Rat und Tat. „Ich hatte damals keine formelle Funktion, sondern war eher eine Art freiwilliger Helfer“, erzählt Levits. So habe er anfangs etwa Faxe und Mitteilungen entgegengenommen und beantwortet, in denen andere Staaten Lettland darüber informierten, dass sie dessen Unabhängigkeit und Souveränität anerkennen. Weiter schrieb er zahlreiche außenpolitische Gutachten und Memoranden.
Seine Beratungstätigkeit setzte Levits auch als lettischer Botschafter in Bonn fort. Parallel zu seinen Aufgaben als diplomatischer Vertreter unterstützte Levits sein Heimatland beim Aufbau des Rechtssystems und Justizwesens. „Ich habe abends häufig noch am Schreibtisch gesessen und Gesetze geschrieben, wie zum Beispiel das Gesetz über das Verfassungsgericht, die Verordnung über das Verwaltungsverfahren und andere Gesetzgebungsakte. In Lettland gab es damals noch niemanden, der das hätte machen können“, sagt er. Dabei konnte Levits auf seine profunden Kenntnisse der deutschen Rechtsordnung aufbauen, die in nicht wenige lettische Gesetze einfließen sollten. Als Vorbild dienten ihm besonders deutsche Verfassungs- und Verwaltungsregeln. „Das lettische Recht war schon immer stark am deutschen Recht angelehnt“, erläutert der renommierte Jurist die historische Rechtstradition in Lettland.[12]
Knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Botschafter sollte sich Levits dann ganz der Ausgestaltung der lettischen Rechtsordnung widmen. Nach den ersten Parlamentswahlen nach der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands im Juni 1993 wechselte er als Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident auf die Kabinettsbank und übernahm Regierungsverantwortung. In ähnlicher Weise brachten sich auch viele andere Exil-Letten in ihrer Heimat ein, die im Westen aufgewachsen und von dessen Wertvorstellungen geprägt worden waren. Sie sollten wichtige Posten in der Politik und Wirtschaft übernehmen.
[1] Levits, E. (2021, 10.6.). Gespräch mit dem Autor.
[2] Vucina, G. (1992, 6.7.). Nākošais vēstnieks Vācijā saņem akreditācijas rakstu [Künftiger Botschafter in Deutschland erhält Beglaubigungsschreiben]. Diena, Nr. 122 vom 7.7.1992. S. 8.
[3] dpa (2019, 16.8.). Lettlands Präsident: „Deutschland ist mir ans Herz gewachsen“. Deutsche Presse-Agentur [Pressemeldung].
[4] Steinmeier, F.-W. (2021, 16.9.). Rede bei einem Mittagessen mit den Staatsoberhäuptern der Republik Estland, der Republik Lettland und der Republik Litauen. [Rede]. Der vollständige Redetext ist abrufbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/09/210916-Tischrede-Baltische-Staaten.html (zuletzt aufgerufen am 16.11.2023).
[5] Libeka, M. (2020, 16.7.). Patiesība par manu ģimeni, pilsonību un izglītību [Die Wahrheit über meine Familie, Staatsbürgerschaft und Bildung] [Interview]. Latvijas Avīze, Nr. 134 (6571) vom 16.7.2020. S. 4-5.
[6] N.N. (1988). Paziņojums [Bekanntmachung]. Brīvā Latvija: Apvienotā „Londonas Avīze“ un „Latvija“, Nr. 109 vom 26.12.1988. S. 5.
[7] Levits, E. (2021, 10.6.).
[8] dpa (2019, 16.8.). Lettlands Präsident: „Deutschland ist mir ans Herz gewachsen“. Deutsche Presse-Agentur [Pressemeldung].
[9] Libeka, M. (2020, 16.7.).
[10] Meissner, B. (2000). Der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands. In: Meissner, B.; Loeber, D. und Hennig, D. (Hrsg.). Die Deutsche Volksgruppe in Lettland: Aktuelle Fragen des deutsch-lettischen Verhältnisses. Bibliotheka Baltica. Schönstatt-Verlag. S. 216-222.
[11] Levits, E. (2021, 10.6.).
[12] Ebenda.
Zum Ruhm des lettischen Gymnasiums in Münster tragen besonders dessen ehemalige Schüler bei. Zu den bekanntesten Absolventen gehören Lettlands früherer Staatspräsident Egils Levits und Ex-Regierungschef Krišjānis Kariņš. Beide erinnerten sich anlässlich des 75. Jahrestags der Schulgründung in der lettischen Tageszeitung Latvijas Avīze an ihre Zeit an der Lehranstalt:
Egils Levits: „Ich war zweimal am lettischen Gymnasium in Münster – das erste Mal als Schüler, das zweite Mal als Lehrer. Als ich mit meiner Familie nach Deutschland kam, wurde meine Hochschulreife, die ich zuvor in Riga erworben hatte, nicht als ausreichend angesehen, um meine Ausbildung an einer deutschen Universität fortzusetzen. Daher habe ich ein Jahr in Münster studiert und mit dem dort erlangten Abitur meine Studentenlaufbahn beginnen können.
In diesem einen Jahr entdeckte und beteiligte ich mich aktiv in der Welt der Exil-Lettinnen und Letten, die von ihrem Wesen her ein alternatives, freies Lettland war, eine Fortsetzung des unabhängigen Lettlands außerhalb des okkupierten Lettlands. Ich erinnere mich, dass ich viele Bücher in der Schulbibliothek gekauft habe. Besonders solche über Geschichte und Politik, einschließlich lettischer Literatur, und oft las ich bis tief in die Nacht, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was für mich zu dieser Zeit in Lettland nicht zugänglich war. Zehn Jahre später kehrte ich zur Schule zurück und unterrichtete als Lehrer kurzzeitig Politik und Geschichte.“[1]
Krišjānis Kariņš: „Ich bin in den USA aufgewachsen. An der University of Western Michigan gab es ein lettisches Sprachstudienprogramm, wo man eine “Auffrischimpfung im Lettischsein„ erhalten konnte. Der andere derartige Ort war das Gymnasium in Münster. Ich habe die 12. Klasse in Amerika abgeschlossen und bin dann nach Münster in die 13. Klasse gegangen. Aus akademischer Sicht war die Schule sehr gut. Es herrschte dort eine sehr patriotische, sehr dynamische Atmosphäre. (...) Der Glaube an die Freiheit und Unabhängigkeit Lettlands entwickelte sich dort sehr stark.
Münster hat meine lettische Identität auf ewig gefestigt. Die Freundschaften, die dort in der Jugend entstanden sind, waren sehr langlebig. [...] Es ist nicht verwunderlich, dass viele nach der Erfahrung in Münster ihren Weg nach Lettland gefunden haben. Wir haben erkannt, dass wir diejenigen sind, die den lettischen Geist weitertragen müssen.“[2]
[1] Sprūde, V. (2021, 16.2.). Latvietības cietoksnis [Festung des Lettentums]. Latvijas Avīze, Nr. 32 (6719) vom 16.2.2021. S. 6-7.
[2] Ebenda.
Als Mitarbeiter des Naturschutzbundes im Bereich des Nationalparks Wattenmeer war es eine Umweltkonferenz in Wismar, die Albert Caspari im Sommer 1990 den Kontakt mit Estland, Lettland und Litauen brachte. Im Anschluss an die Konferenz lernte Caspari drei junge Balten kennen, die Verbindungen in den Westen suchten. Man war sich sympathisch, ein erster Besuch in Lettland folgte bereits kurz darauf. Inspiriert vom Freiheitswillen der Lettinnen und Letten beteiligte sich Caspari an einem Versuch, in Bremen ein „Informationszentrum Baltische Staaten“ zu gründen. Als sich in dieser Zeit auch Lettland seine Unabhängigkeit zurückerkämpfte, formierte sich in Bremen der Verein INFOBALT, der sich alsbald daran machte, einerseits selbst Kooperationsprojekte zu initiieren, und andererseits netzwerkartig Kontakte zu gleichgesinnten Deutschen mit Kenntnissen zu den baltischen Staaten zu knüpfen. Bis 2003 wurde die Zeitung „Infoblatt baltische Staaten“ herausgegeben, mit Berichten über Kooperationen, aktuelle Politik und den Alltag in Estland, Lettland und Litauen.
Eine mehrjährige Projektbetreuung für eine deutsche Stiftung ermöglichte Caspari, regelmäßig Lettland und insbesondere Riga zu besuchen. Ab dem Jahr 2000 initiierte eine Projektgruppe des Vereins INFOBALT auch die Radiosendung „Baltische Stunde“, für die Caspari viele Gespräche und Interviews führte. Die Entwicklung in Lettland, aber auch Veranstaltungen zwischen Deutschland und Lettland dokumentierte Caspari durch seine Fotos: von Lettlands frühen Auftritten bei der ITB Berlin und der Hannover-Messe, der Buchmesse in Leipzig 1997 mit dem Schwerpunkt „Baltische Staaten“, der EXPO 2000, Rigas 800-Jahrfeier, der Eurovision 2003 in Riga bis zu den Volksabstimmungen zum EU-Beitritt.
Diese inzwischen historischen Fotos machen Caspari auch zu einem einzigartigen Chronisten der frühen Jahre um die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen Deutschland und Lettland. Seine Fotos wurden 2008 im Rahmen des O!Vācija-Kulturmonats in Deutschland und 2014 auch in Riga gezeigt. Die „Baltische Stunde“ gibt es heute noch, oft mit Gästen aus Estland, Lettland oder Litauen, aktuellen Buchvorstellungen und Infos aus Kultur und Gesellschaft. Dazu kommen Blogs, eine Facebook-Gruppe und ein umfangreiches Vereinsarchiv, dessen Materialien derzeit noch auf eine wissenschaftliche Auswertung warten.
Hören Sie doch mal rein!
„So richtig wusste ich nicht, was mich erwartet“
Sie ist selten sprachlos und trifft immer den richtigen Ton. Dass Deutschland und Lettland in den bilateralen Beziehungen meist mit einer Stimme sprechen, liegt nicht zuletzt auch an ihr: Anda Schwede arbeitet seit inzwischen mehr als 32 Jahren als Dolmetscherin an der Deutschen Botschaft in Riga.
Wie hat Ihre Zeit an der Deutschen Botschaft vor über 30 Jahren eigentlich begonnen?
Ich würde sagen, das war einfach Schicksal. Ich war damals Lehrkraft an einem Hochschulinstitut und wurde von einem Professor angesprochen, dessen um vieles jüngere Frau ich in Deutsch unterrichtete. Weder kannte er mich noch ich ihn. Aber er hat mich angerufen und mir davon erzählt, dass der deutsche Botschafter eine Mitarbeiterin suche. Ich bin dann einfach ins Hotel Rīdzene gegangen und habe mich vorgestellt. Und so bekam ich den Job.
War Ihnen damals klar, auf was Sie sich einlassen?
Nein. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Durch die ganzen Veränderungen in Lettland hatte ich zwar schon so ein Gefühl, dass ich was anderes machen würde. Dass es dann aber so kommen sollte – das ist wirklich unbegreiflich. Ich glaube nicht, dass ich mich selbst bei der Deutschen Botschaft beworben hätte. Ich hielt mich damals einfach nicht für qualifiziert genug. Da bin ich mir ziemlich sicher.
War die Umstellung schwierig?
Natürlich. Ich bin ausgebildete Deutschlehrerin – und habe während des Studiums keine einzige Stunde Übersetzung oder Dolmetschen gelernt. In der Sowjetzeit gab es auch keine Deutschen in Lettland – ich habe die Sprache kaum irgendwo praktizieren können. Vieles war für mich absolutes Neuland. Richtig dolmetschen habe ich dann erst in Bonn gelernt – während eines fünfwöchigen Konsekutivkurses im Auswärtigen Amt. Ich dachte eine Zeit lang, dass ich das nie schaffen würde. Irgendwie hat es dann aber doch funktioniert.
Eine andere große Umstellung waren die zu erledigenden Arbeiten und die Arbeitszeiten in der Botschaft. Sie reichten häufig bis in die späten Abendstunden oder ins Wochenende hinein. Das ist teilweise auch heute noch so, aber in der Anfangsphase waren die Aufgaben noch nicht so genau festgelegt. Da musste man das tun, was plötzlich so anfiel. Ich musste mit zu Terminen und wahnsinnig viel organisieren. Das war sehr viel Improvisation. Heute ist das sehr viel geregelter, und die Botschaft ist auch besser besetzt als am Anfang. Man muss sich nicht mehr verausgaben, um alles zu schaffen, was notwendig ist.
An welche Besucher erinnern Sie sich noch ganz besonders?
Unvergessen bleibt mir bisher der Besuch des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. So jemanden wie ihn mit eigenen Augen zu sehen. Oder auch die Besuche von Bundeskanzlerin Angela Merkel – das waren Termine auf sehr hohem Niveau und natürlich auch besondere Herausforderungen für mich als Dolmetscherin. Gut kann ich mich auch noch an einen Besuch von Staatsminister Günther Verheugen erinnern, als Anfang 1999 das Abkommen über die Aufhebung der Visumspflicht zwischen unseren Ländern unterzeichnet wurde. Ich erinnere mich auch gut an die Reise nach Bonn zu Bundeskanzler Helmut Kohl, um für den lettischen Staatspräsidenten Guntis Ulmanis zu übersetzen. In der Anfangszeit habe ich manchmal noch für beide Seiten gedolmetscht, obwohl das eigentlich nicht üblich ist. Heute ist das auch nicht mehr möglich.
Wer war für Sie am schwierigsten zu übersetzen?
Ich habe an niemanden schlechte Erinnerungen. Alle waren immer sehr höflich und bemerkten den Dolmetscher, gaben auch die Hand und fragten manchmal interessiert, wie es einem geht. Dass jemand beim Reden gelegentlich die Übersetzung vergisst, ist auch kein Problem. Dafür ist der Dolmetscher da – der Kunde ist König. Und der Kunde darf so lange reden, wie er will und muss.
Ist das Dolmetschen im Laufe der Zeit einfacher oder anspruchsvoller geworden?
Anspruchsvoll war es immer. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Man muss sich gut vorbereiten – die Gespräche sind ja keine Kaffeekränzchen. Und man muss sich schon sehr konzentrieren. Es sollten natürlich keine Fehler passieren. Besonders bei hochrangigen Besuchen trägt man richtig Verantwortung. Dies ist das Schöne und zugleich auch das Herausfordernde an der Arbeit als Dolmetscher. Man hat das Gefühl, einen – wenn auch sehr kleinen – Beitrag zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Lettland und damit der Verständigung zwischen unseren beiden Ländern leisten zu können.
Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die ein Dolmetscher mitbringen muss?
Geistige Flexibilität und ein Sinn für feinste sprachliche Nuancen. Wichtig ist auch die Fähigkeit, Texte und Äußerungen analytisch zu erfassen. Und man muss sich rasch in neue Sachgebiete einarbeiten können und auf dem Laufenden bleiben, was so in der Welt passiert – auch um die richtigen Ausdrücke und Bezeichnungen zu kennen.
Wie bereiten Sie sich genau vor?
Sobald die Gesprächsthemen mehr oder weniger bekannt sind, lese ich mich in die einzelnen Themenbereiche ein. Wie nennen Letten diese Sachen, wie die Deutschen. Und dann mache ich für mich eine Art Vokabelliste. Darauf stehen dann die allerwichtigsten Schlüsselwörter, die schnell lesbar sein müssen und auf die man im Zweifel unbemerkt einen schnellen Blick werfen kann. Das geht natürlich nur bei Konsekutivübersetzungen. Wenn man simultan übersetzen muss, geht das nicht.[1]
[1] Schwede, A. (2021, 12.7.). Gespräch mit dem Autor.
Die Demokratie hatte es nicht immer leicht in der wechselvollen deutschen Geschichte. Ihre historischen Grundlagen wurden 1919 von der Nationalversammlung in Weimar gelegt. Der Tagungsort gab auch der Weimarer Republik ihren Namen, die nur 14 Jahre bestehen sollte und abgelöst wurde vom dunkelsten Kapitel in der Geschichte Deutschlands. Dennoch wurde 1919 eine Entwicklung mit weitreichenden Auswirkungen angestoßen – auch für Lettland. Daran erinnerte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Festrede zum 100. Jubiläum der lettischen Verfassung am 15. Februar 2022 in Riga. Zu der Feierstunde war er von seinem Amtskollegen Egils Levits eingeladen worden.
Die Weimarer Verfassung, betonte Steinmeier in seiner Rede im Rigaer Schloss, sei fest in der europäischen Rechtstradition verwurzelt, zugleich aber modern und zukunftsweisend gewesen. Deshalb habe sie nach dem Ersten Weltkrieg auch vielen anderen neu entstandenen oder zu Republiken umgeformten Staaten als Vorbild gedient. „Besonders groß war der Einfluss auf Ihre Verfassung, auf die Satversme, auch wenn die Verfassunggebende Versammlung hier in Riga damals durchaus eigene Wege suchte und fand“, sagte der Bundespräsident.
In Deutschland wie in Lettland sei damals zum ersten Mal in der Geschichte das Prinzip der Volkssouveränität festgeschrieben worden und es entstanden bis dahin unbekannte gesellschaftliche und politische Spielräume. „Die Verfassungen der Weimarer Republik und der Republik Lettland schufen damit einen Raum des Rechts, in dem demokratische Selbstbestimmung und individuelle Freiheit verwirklicht und immer wieder aufs Neue austariert werden sollten und konnten“, würdigte Steinmeier die Regelwerke von 1919 und 1922, in denen auch bereits das Frauenwahlrecht verankert wurde.
Auch heute bilden die Verfassungen in beiden Ländern in den Worten von Steinmeier wieder den „Rahmen für ein gleichberechtigtes und friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, Kultur und politischer Überzeugung.“ In Deutschland bestimmt das Grundgesetz, wie Bürger und Staat zueinander stehen, und steht seit 1949 über allen anderen Vorschriften. Noch immer streiten Rechtsexperten aber darüber, ob es auf Grundlage der Weimarer Reichsverfassung konzipiert wurde oder im ausdrücklichen Gegensatz zu ihr.
In Lettland dagegen ist die Sache einfacher. „Nach der Selbstbefreiung in den 1990er Jahren haben Sie in Lettland ihre alte Verfassung an manchen Stellen geändert und angepasst“, sagte Steinmeier. „Sie ist eine der ältesten noch geltenden Verfassungen der Welt, aber sie ist weder verstaubt noch verrostet, ganz im Gegenteil: Sie ist eine sehr lebendige Verfassung, offen für gesellschaftlichen Wandel, und ihr demokratischer Geist ist nach wie vor hoch inspirierend.“[1]
[1] Steinmeier, F.-W. (2022, 15.2.). Rede des Bundespräsidenten bei der Konferenz „100 Jahre Satversme“ zum Verfassungsjubiläum von Lettland. [Mitschnitt des Autors]. Der vollständige Redetext ist abrufbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/02/220216-Lettland-Verfassungsjubilaeum.html (zuletzt abgerufen am 07.11.2023).
Prägende Gestalt der deutschen Osteuropaforschung und eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der lettischen Rechtsgeschichte: Dietrich A. Loeber widmete sein Leben und Werk der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Seine Verdienste sind umfangreich und hochanerkannt: Der deutschbaltische Jurist, Politikwissenschaftler und Historiker Dietrich A. Loeber (1923–2004) spielte eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung Lettlands als Rechtsstaat und beteiligte sich mit viel Herzblut an der Entwicklung eines funktionsfähigen lettischen Rechtswesens nach der wiedererlangten Unabhängigkeit 1991. „Lettland schätzt die Arbeit von Professor Loeber für Lettland sehr und wird ihm für seine Loyalität gegenüber seiner Heimat immer dankbar sein“, würdigte der ehemalige Staatspräsident Egils Levits den Rechtsgelehrten am 4. Januar 2023 bei einem Symposium im Präsidentenpalast.[1] Damit erinnerte Lettland an den 100. Geburtstag von Loeber, der in Riga geboren wurde und dessen Vater August ein langjähriges Mitglied des Obersten Gerichtshofes in der jungen Republik Lettland war.
Wie die meisten Deutschbalten wurden Loeber und seine Familie 1939 als Folge des Hitler-Stalin-Paktes nach Deutschland „umgesiedelt“. Dort studierte er nach dem Krieg Jura, verfasste bedeutende völkerrechtliche Schriften zu den baltischen Staaten und unterstützte Ende der 1980er Jahre aktiv das Streben Lettlands und der beiden anderen Baltenstaaten nach Freiheit. Unvergessen ist bis heute, dass Loeber in Estland bereits 1988 und 1989 öffentliche Vorträge über den Hitler-Stalin-Pakt und die Geheimen Zusatzprotokolle hielt, die damals offiziell von sowjetischer Seite noch geleugnet wurden. Seine Lehrtätigkeit setzte er auch nach der wiedererlangten Unabhängigkeit fort – in Lettland konnte eine ganze Generation von Juristen und Wissenschaftlern vom Wissen und der Expertise Loebers profitieren.[2]
Loeber war einer der ersten Deutschbalten, die – unter aufmerksamer Beobachtung durch den KGB – nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetrepublik Lettland besuchten. Seine KGB-Akte gehört zu den wenigen, die in Lettland vollständig erhalten geblieben sind. Daraus geht hervor, dass der sowjetische Geheimdienst ihn verdächtigte, ein deutscher Spion zu sein und Verbindungen zu den Geheimdiensten westlicher Länder zu haben. Loeber machte sich später mit den rund 800 Seiten an Dokumenten und Unterlagen vertraut, die der KGB über ihn gesammelt hatte, und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1996 in der Zeitschrift Latvijas arhīvi.[3]
Auch gehörte Loeber zu den ersten Ausländern, denen am 28. August 1991 am Flughafen Riga ein Einreisevisum für die Republik Lettland ausgestellt wurde. „Ich bin schon mehrmals als Besucher hier gewesen, aber heute ist ein historischer Tag“, sagte er damals der Tageszeitung Diena.[4] Seine enge Beziehung zu seinem Heimatland bestätigt eine weitere historische Episode: Mitte 1954 wurde ihm von der lettischen Exil-Botschaft in London ein lettischer Pass ausgestellt, den Loeber beantragt hatte. Diese Entscheidung im Einklang mit der Doktrin der Staatskontinuität sollte später die Ausgestaltung des lettischen Staatsbürgerrechts mitprägen.[5]
Einen maßgeblichen Anteil hatte Loeber auch an der Gründung des lettisch-deutschbaltischen Kulturvereins Domus Rigensis, der seinen Sitz im Mentzendorff-Haus in der Rigaer Altstadt hat. Das historische Gebäude gehörte einst den Großeltern von Loeber, der ein lebenslanges Wohnrecht in dem Haus genoss und für den ein Gedenkzimmer im Obergeschoss eingerichtet wurde. [6]
[1] Welscher, A. (2023, 7.1.). Dietrich André Loeber: Baltic German legal scholar and true Latvian patriot. eng.lsm.lv. https://eng.lsm.lv/article/culture/history/dietrich-andre-loeber-baltic-german-legal-scholar-and-true-latvian-patriot.a490535/ (zuletzt abgerufen am 07.11.2023). Das Programm und ein Mitschnitt der Konferenz sind abrufbar unter: https://www.president.lv/lv/jaunums/video-starptautiska-konference-ditrihs-andrejs-lebers-dietrich-andre-loeber-100-vacbaltietis-un-latvijas-pilsonis-starptautisko-tiesibu-specialists-un-laikabiedrs (zuletzt abgerufen am 07.11.2023).
[2] Ebenda und Terihova, S. (2018). Dītrihs Andrejs Lēbers: demokrātiskai un tiesiskai Latvijai veltīts mūžs [Dietrich André Loeber: Ein dem demokratischen und gerechten Lettland gewidmetes Leben]. Jurista vārds, Nr. 30 (1036) vom 24.7.2018. S. 8-21.
[3] Teile der Unterlagen des KGB zu Loeber sind auf einer eigens eingerichteten Webseite
des Lettischen Nationalarchivs einsehbar: https://kgb.arhivi.lv/dokumenti/vdk/operativas-lietas/ber (zuletzt abgerufen am 07.11.2023). Zu Loebers Ausführungen siehe: Lēbers, D. (1996). „Bēra“ lieta Latvijas PSR Valsts drošības komitejā (1961-1990) [Der Fall „Bērs“ im Staatssicherheitskomitee der Lettischen SSR (1961-1990)]. Latvijas Arhīvi, Nr. 3-4 (1996). S. 132-138.
[4] Sīlis, J. (1991, 29.8.). Ārvalstnieki saņem LR vīzas [Ausländer erhalten LR-Visa]. Diena, Nr. 168 vom 30.8.1991. S.1.
[5] siehe dazu ausführlich: Levits, E. (2018). Nozīmīgs spriedums par pilsonības nepārtrauktību valsts nepārtrauktības doktrīnas ietvarā [Ein bedeutendes Urteil zur Kontinuität der Staatsbürgerschaft im Rahmen der Staatskontinuitätslehre]. Jurista vārds, Nr. 30 (1036) vom 24.7.2018. S. 23-24.
[6] Zum Gedenkzimmer im Mentzendorff-Haus siehe: https://www.rigamuz.lv/mn/ekspozicijas_lv/ditriha-andreja-lebera-pieminas-kabinets/ (zuletzt abgerufen am 07.11.2023).
Eine eigene Währung ist ein erstrangiges Symbol staatlicher Souveränität. Nur wenige dürften dies besser wissen als die Deutschen, die so stolz auf ihre Deutsche Mark (DM) waren – und auch Lettland bei der Währungsreform und Einführung von eigenen Münzen und Banknoten halfen.
Am 5. März 1993 waren die Tage des Rubels in Lettland endgültig gezählt. Mit Einführung der Fünf-Lats-Banknote verschwand die ungeliebte Währung nach mehr als 50 Jahren aus den Geldbeuteln der Letten. Statt des lange grimmig von den sowjetischen Rubel-Noten dreinblickenden Lenins und des zwischenzeitlich eingeführten lettischen Rubels fanden sich darin nun Geldscheine mit nationalen Motiven. „Endlich den Lats in der Hand“, titelte die Tageszeitung Diena.[1] Abgebildet auf der Fünf-Lats-Banknote war eine Eiche – der Nationalbaum von Lettland und Deutschland. Später wurden bis zum 18. Oktober 1993 nach und nach die anderen Geldscheine und Münzen ausgegeben.
Die Ausgabe der neuen Banknoten war der symbolische Schlusspunkt der zweistufigen lettischen Währungsreform. Die institutionellen Voraussetzungen dafür wurden mit einem Zentralbankgesetz geschaffen, das am 19. Mai 1992 verabschiedet wurde. In Inhalt und Form folgt es den rechtlichen Grundlagen für die Bundesbank, die damals technische Hilfe bei der Ausarbeitung der Gesetzgebung leistete. Experten der Bundesbank, in deren Tresoren in Frankfurt am Main bis 2002 die lettischen Währungsreserven lagerten, unterstützten später auch konzeptionell die Vorbereitung der zweistufigen Währungsreform. Zunächst wurde mit dem lettischen Rubel der Ausstieg aus der Rubelzone vollzogen, später der Lats als neues alleiniges Zahlungsmittel eingeführt.[2]
Banknoten und Münzen aus Deutschland
Auch das neu eingeführte Geld war Made in Germany: Die Erstausstattung an Umlaufmünzen von Lats und Santimi wurde vom Bayerischen Hauptmünzamt geprägt, die Banknoten druckte die Firma Giesecke & Devrient GmbH aus München. Das Unternehmen war in Lettland bereits bekannt – es hatte zuvor schon die lettischen Pässe gedruckt.[3] Im Vorfeld der Ausgabe des neuen Zahlungsmittels gewährte Giesecke & Devrient lettischen Medien sogar einen seltenen Einblick in das Innere seines ansonsten aus Sicherheitsgründen streng abgeriegelten Stammsitzes. „Wo der Lats empfangen und geboren wurde“, überschrieb die Zeitung Latvijas Jaunatne ihren Besuch bei dem 1852 gegründeten Münchner Banknotenhersteller.[4] Die Geburt erwies sich allerdings als schwierig – die Herstellung des Lats sollte Giesecke & Devrient vor unerwartete Probleme stellen.
In der altehrwürdigen Gelddruckerei hatte niemand damit gerechnet, dass die Entwürfe für die Geldscheine mit Hilfe eines Computers erstellt wurden. Entsprechend groß war die Verwunderung in München, als die beiden Designer mit einem elektronischen Speichermedium ankamen. „Die Deutschen sagten, sie hätten so etwas noch nie gesehen oder getan“, erinnert sich Siebdruckspezialist Valdis Ošiņš.[5] Zusammen mit dem Architekten Imants Žodžiks hatte er damals den von der lettischen Zentralbank ausgerufenen Wettbewerb zur Gestaltung der Lats-Banknoten gewonnen. In seinen Entwürfen spiegelte sich die enge Verbundenheit Lettlands zu seiner nationalen Kultur und Tradition wider.
Das grafische Konzept der Geldscheine war komplex. Doch Giesecke & Devrient stellte sich der Herausforderung. Wenn die Lettische Zentralbank solche Banknoten mit modernem Design will, dann drucken wir sie, habe der damalige Firmenchef gesagt, erinnert sich Žodžiks an den ersten Besuch mit den Entwürfen in München.[6] Abwechselnd arbeiteten er und Ošiņš in Lettland und Deutschland an der Gestaltung der in sechs Nominierungen herausgegebenen Lats-Banknoten, die später wiederum in Zusammenarbeit mit den Gelddruckexperten des deutschen Unternehmens um neue Sicherheitsmerkmale ergänzt wurden.
Ganz München abgesucht Auszug aus den Erinnerungen des Siebdruckspezialisten Valdis Ošiņš an den ersten Besuch bei Giesecke & Devrient GmbH 1991 in München: „Wir haben nur eine tragbare optische Disc / Kassette mitgenommen, um die Entwürfe zu präsentieren, da wir zu dieser Zeit nicht die Möglichkeit hatten, selbst hochwertige Muster zu drucken – Farbdrucker kosteten Tausende von US-Dollar. Auch war ein Verbot in Kraft, wonach die neueste und leistungsstärkste technologische Ausrüstung nicht an sozialistische Länder verkauft werden durfte. [...] Wir haben uns darauf verlassen, dass es in dem westlichen Weltstaat Deutschland keine Probleme mit dem Betrachten und Drucken unserer Arbeit geben würde. Doch stellte sich heraus, dass das Unternehmen nicht über die Ausrüstung verfügte, um die Disc zu “lesen„. In den nächsten Tagen haben wir dann ganz München abgesucht, bis wir ein Computerstudio ausfindig machen konnten, das die Disc öffnen und einige grobe Skizzendrucke anfertigen konnte. Anzumerken ist, dass nach Abschluss unserer gemeinsamen Arbeit die Arbeitsplätze der Grafiker von Giesecke & Devrient GmbH mit Apple-Computern ausgestattet wurden.“[7] |
Wertvollste Währung Europas
Der Wert eines Lats entsprach damals rund zwei Deutschen Mark. Im Gegensatz zum benachbarten Estland koppelte Lettland seine Währung aber nicht an die DM, sondern an eine künstliche Währungseinheit des Internationalen Währungsfonds (IWF) – die sogenannten Sonderziehungsrechte (SZR). 2005 wurde der Wechselkurs dann fest an den Euro gebunden und lag seither bis zur Übernahme der europäischen Gemeinschaftswährung 2014 bei rund 1,40 Euro je Lats. Damit war das lettische Zahlungsmittel rein numerisch eine der wertvollsten Währungen Europas. Anders als etwa die DM war der Lats aber nie eine bedeutende Währung auf den Kapitalmärkten.
Vollendet wurde die Währungsreform mit der 500-Lats-Banknote, die ein paar Jahre später am 20. Juli 1998 eingeführt wurde. Sie war europaweit der zweitwertvollste Geldschein nach der 1000-Schweizer Franken-Banknote. Darauf zu sehen war das Konterfei eines Trachtenmädchens: Milda – Symbol für die freie lettische Nation und eine allegorische Figur ähnlich der deutschen Germania. Sie zierte bereits in der Zwischenkriegszeit die Fünf-Lats-Münze und befindet sich nun auch wieder in den Geldbeuteln aller Letten – als Motiv der Ein- und Zwei-Euro-Münzen des baltischen Landes.[8]
[1] N.N. (1993, 6.3.). Beidzot – lati rokā [Endlich den Lats in der Hand]. Diena, Nr. 45 (552) vom 6.3.1993. S.1. Zur Einführung des Lats siehe ausführlich: Ducmane, K. (2012). Re-Establishment of the Lats. In: Latvijas Banka (Hrsg.). The Bank of Latvia XC. S. 209-236.
[2] Rūse, L. (2012). Bank of Latvia in Times of Change (2012). In: Latvijas Banka (Hrsg.). The Bank of Latvia XC. S. 169-208. Zur Hilfestellung der Bundesbank in den 1990er Jahren siehe auch die auf der Webseite der Latvijas Banka veröffentlichten Erinnerungen des Bundesbank-Vertreters Helmut Rittgen: www.bank.lv/par-mums/lb100/13027-bundesbankas-padoms-devindesmitajos-modernas-centralas-bankas-izveide-latvija (zuletzt abgerufen am 13.11.2023).
[3] Ducmane, K. (2012).
[4] Žihare, L. (1993, 2.3.). Kur ieņemts un dzimis Lats [Wo der Lats empfangen und geboren wurde]. Latvijas Jaunatne, Nr. 42 vom 2.3.1993. S. 6.
[5] Puķe, I. (2013). Taisījām naudu, kamēr uztaisījām [Wir haben Geld gemacht, bis wir es geschaffen haben]. Ir. Nr. 17/18 vom 25. April - 8. Mai 2013. S. 54-58.
[6] Die Erinnerungen von Žodžiks sind abgedruckt in: Latvijas Banka (Hrsg.). Ls - 20 nacionālās valūtas mākslas gadi (20 Jahre Kunst der nationalen Währung). S. 63.
[7] Die Erinnerungen von Ošiņš sind abgedruckt in: Latvijas Banka (Hrsg.). Ls - 20 nacionālās valūtas mākslas gadi (Ls – 20 Jahre Kunst der nationalen Währung). S. 63.
[8] Zur Geschichte der Geldes und der Währungen in Lettland siehe: Ducmane, K. und Ozolin̦a, A (2013). Naudas laiki Latvijā [Die Zeiten des Geldes in Lettland]. Lauku Avīze.
In Lettland erzählen Friedhöfe und Grabsteine an zahlreichen Orten von der jüdischen Geschichte. Doch viele davon sind in beklagenswertem Zustand. Gemeinsam mit Jugendlichen kümmert sich ein deutscher Pfarrer darum, dass die Erinnerung nicht verblasst.
In Lettland gilt er mittlerweile als der Fachmann für jüdische Friedhöfe: Seit fast zwei Jahrzehnten reist der pensionierte deutsche Pastor und Lehrer Klaus-Peter Rex aus Wülfrath jedes Jahr mit Jugendlichen in den Baltenstaat, um verlorene jüdische Friedhöfe in Lettland soweit es geht wieder herzurichten. Im Sommer 2021 etwa war Rex mit einer internationalen Gruppe von jungen Leuten im Alter zwischen 17 und 33 Jahren aus Deutschland, Lettland und erstmals auch Israel in Subate bei Daugavpils. Dort brachten sie gemeinsam den verwilderten jüdischen Friedhof auf Vordermann – wie zuvor schon in Pļaviņas, Krāslava, Sabile und zahlreichen anderen Orten. „Wir haben schon über zehn Friedhöfe in verschiedenen Regionen Lettlands wieder instandgesetzt“, erzählt Rex, der bei seinen in Eigenregie organisierten Projekten mit der jüdischen Gemeinde in Lettland und den lokalen Behörden zusammenarbeitet.[1]
Landesweit gibt es etwa 85 jüdische Friedhöfe – mit Tausenden von Grabsteinen. Die Friedhöfe wurden besonders in der Zeit der deutschen Besatzung Lettlands im Zweiten Weltkrieg und bis in die 1950er Jahre teils massiv geschändet. Die fortschreitende Verwitterung, Vandalismus und Schäden durch Umwelteinflüsse setzten den Grabsteinen in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlich weiter zu. In manchen Orten Lettlands ist der nicht mehr genutzte Friedhof das einzig noch sichtbare Zeugnis, dass es hier einmal Juden gab – bis zu ihrer Vernichtung im Holocaust. Die Massenerschießungen fanden dabei teils auch in Nähe der Friedhöfe statt.
Wichtige Erinnerungs- und Dokumentationsarbeit
„Wir legen nicht nur Hand an und bringen die Friedhöfe wieder in Ordnung, sondern versuchen auch, alle Grabmale zu erfassen und zu katalogisieren“, erzählt Rex. Damit sollen die jüdischen Friedhöfe auch als historische Zeugnisse erschlossen und Familien die Suche nach verstorbener Verwandtschaft erleichtert werden. Jedes Grabmal wird daher nach Erstellung eines Lageplans und Grundriss des jeweiligen Friedhofs fotografiert, um die hebräischen und deutschen Inschriften zu dokumentieren. Zuvor müssten die teils Jahrhunderte alten Grabsteine aber erst denkmalgerecht gereinigt werden, um die Inschriften überhaupt lesbar zu machen.[2]
„Wir sind sehr dankbar für seine Arbeit – sie ist wirklich ein Geschenk für uns“, würdigt Gita Umanovska die Aktivitäten des deutschen Seelsorgers. „Wir hätten nicht die Möglichkeit, Kapazitäten und auch nicht das Wissen, um die Friedhöfe zu pflegen. Klaus-Peter Rex dagegen ist ein echter Experte auf diesem Gebiet.“ Lobend hebt sie auch den integrativen Charakter des Projekts hervor, das die jüdische Gemeinde und jeweilige Lokalverwaltung zusammenbringe. Am wichtigsten aber seien die Dokumentation der Gräber und seine Nachforschungen. „Er erschließt die jüdische Geschichte an Orten, an denen es gar keine Juden mehr gibt“, betont Umanovska.[3]
Durch die Denkmalpflege ist es vielen Nachkommen nun möglich geworden, sich die Grabmale ihrer Vorfahren in Erinnerung zu rufen. Rex erinnert sich an eine Anfrage von einem sehr alten Juden aus der Schweiz, dem er ein Bild vom Grabstein von dessen Urgroßvater schicken konnte. „Er schrieb zurück, dass er zu gebrechlich wäre, um noch nach Lettland zu reisen. Doch hätte er nun immerhin endlich ein Bild vom Grab, wofür er sich äußerst dankbar zeigte.“ Solche Anfragen erhalte er mehrmals pro Jahr, sagt der evangelische Geistliche.
Großes Interesse am Friedhofsprojekt
Entstanden ist die Idee für die „Friedhofcamps“ eher beiläufig bei einem ganz anderen Projekt in Pļaviņas. Dort hatte Rex unmittelbar nach der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands 1991 ein medizinisches Hilfsprojekt angefangen. 2005 wurde in der Stadt dann das erste Camp durchgeführt. „Anfangs wurde das Projekt durchaus noch etwas skeptisch betrachtet, inzwischen aber wird es voll unterstützt und es besteht ein breites Interesse“, verweist Rex zufrieden auf die Berichte im lettischen Fernsehen und die zahlreichen Anfragen für weitere herzurichtende Friedhöfe.[4] Ausgewählt werden sie gemeinsam von Rex und der jüdischen Gemeinde. Beteiligt sind meist auch lettische Jugendliche, die nach beendeter Arbeit weiter ein Auge auf die Friedhöfe haben sollen.
Bei aller Freude über das Erreichte ist der Mittsiebziger dennoch nicht restlos zufrieden. „Die Zeit reicht einfach nicht für die noch anstehende Arbeit bei der Wiederherstellung der Friedhöfe“, sagt Rex. Wie lange er selbst es noch tun wird, weiß er nicht. „Ich bin auch nicht mehr der Jüngste“, umschreibt er seine Überlegungen zur Übergabe des Friedhofsprojekts in Lettland an eine mögliche Nachfolgerin. Dabei klingt durch, wie schwer ihm dieser Schritt fallen dürfte.[5]
[1] Rex, K.-P. (2022, 8.1.). Gespräch mit dem Autor.
[2] Ebenda.
[3] Umanovska, G. (2022, 19.1.). Gespräch mit dem Autor.
[4] Rex, K.-P. (2022, 8.1.). Gespräch mit dem Autor. Vgl. beispielhaft die beiden Rundfunkberichte: N.N. (2017, 3.8.). Entuziasti no Vācijas sakopj Sabiles ebreju kapus [Enthusiasten aus Deutschland bringen den jüdischen Friedhof von Sabile in Ordnung]. lsm.lv. https://www.lsm.lv/raksts/dzive--stils/vesture/entuziasti-no-vacijas-sakopj-sabiles-ebreju-kapus.a245629/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2023). und N.N. (2018, 9.8.). Ārvalstu jaunieši kopj Krāslavas ebreju kapus [Junge Menschen aus dem Ausland kümmern sich um die jüdischen Gräber von Krāslava]. lsm.lv. https://www.lsm.lv/raksts/zinas/latvija/arvalstu-jauniesi-kopj-kraslavas-ebreju-kapus.a288196/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[5] Rex, K.-P. (2022, 8.1.). Gespräch mit dem Autor.
In Lettland gibt es Hunderte von DAAD-Alumni, die ein sehr breites Interessens- und Wissensspektrum abbilden. Viele frühere Stipendiaten nehmen heute führende Positionen ein. Doch nur wenige sind so durchgestartet wie sie: Iveta Apkalna.
Wenn Iveta Apkalna in die Tasten haut und auf die Pedale tritt, erklingt der ganze Raum. Egal, wo man im Großen Konzertsaal der Hamburger Elbphilharmonie sitzt. Die Töne der Orgel dringen in jede Ecke vor und erfüllen den kompletten Saal. Kein Wunder: Das imposante Instrument erstreckt sich auf einer Fläche von 15 mal 15 Metern – auch wenn davon nur ein Bruchstück zu sehen ist. Doch ohnehin richten sich alle Blicke meist stets auf Apkalna, die am Spieltisch in der Mitte der Bühne sitzt und die Orgel mit ihrem Spiel zum Klingen bringt.
Die 1976 in Rēzekne geborene Apkalna ist die Titularorganistin der Hamburger Elbphilharmonie – und damit Herrin über die 4765 Pfeifen. Die zierliche Musikerin mit dem ansteckenden Lachen ist ein Weltstar – sie hat die Orgelmusik aus ihrer kirchlichen Nische geholt und gehört zu den besten und bekanntesten Vertreterinnen ihres Fachs. Als Solistin tritt die mehrfache Echo Klassik-Preisträgerin weltweit in den renommiertesten Konzerthäusern auf.
Solistenklasse in Stuttgart
Zu verdanken hat die Lettin ihre Karriere neben ihrer ausgeprägten Musikalität vor allem ihrer Disziplin und Zielstrebigkeit – und zumindest in Teilen auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. Apkalna war von 2000 bis 2003 eine vom DAAD geförderte Solistenklassestudentin im Fach Orgel an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart bei Ludger Lohmann. „Ich wollte unbedingt zu Professor Lohmann, bei ihm studieren und mich als Musikerin weiterentwickeln. Dafür habe ich sehr viel und sehr intensiv gelernt“, erzählt sie.
Ein Leben ohne Musik ist für die Ausnahmeorganistin undenkbar. Mit fünf Jahren lernte sie Klavier spielen, zehn Jahre später kam die Orgel hinzu. 1999 schloss sie ihre Ausbildung an beiden Instrumenten an der Musikakademie in Riga mit Auszeichnung ab und kam nach einem künstlerischen Aufbaustudium an der London Guildhall School of Music and Drama zur Jahrtausendwende nach Stuttgart. Die Neckarmetropole sei damals das „Mekka für Organisten“ gewesen, sagt Apkalna, die schon als 16-Jährige in der Wallfahrtsbasilika von Aglona vor Papst Johannes Paul II. spielte.
In der Solistenklasse verbesserte und verfeinerte sie durch den individuellen Unterricht ihr Instrumentalspiel. „So viel geübt wie in dieser Zeit habe ich in meinem Leben davor und danach nicht mehr“, blickt die DAAD-Stipendiatin lachend auf ihr Studium in Stuttgart zurück. Apkalna hatte damals einen der begehrten sogenannten Freiplätze erhalten – und damit die hohe Studiengebühr erlassen bekommen. Auch half der DAAD der Organistin, ihre Reise- und Lebenshaltungskosten zu bezahlen.
„Ohne die finanzielle Unterstützung wäre das überhaupt nicht machbar gewesen. Für eine Studentin wie mich aus Lettland war das Studium damals eigentlich unbezahlbar“, erzählt Apkalna. Auch habe das Stipendium ihr ermöglicht, ihre eigenen Notenbücher zu kaufen und damit den Grundstein für ihre Musikbibliothek zu legen. „In die Bücher habe ich jeweils das Kaufdatum reingeschrieben – beim Aufschlagen erinnern sie mich heute noch immer an meine Zeit in Stuttgart“. Auch an den Kontakt mit anderen Studenten und das reichhaltige Kulturangebot der baden-württembergischen Landeshauptstadt denkt sie gerne zurück.
Deutschland als zweites Zuhause
Doch war es in der neuen Umgebung nicht immer einfach. Anfangs konnte sie kein Wort Deutsch und musste mit Vorbehalten und Anpassungsschwierigkeiten kämpfen. „Es war auch ein Riesenschritt für mich als Mensch“, erzählt sie. Das vier Semester lange Studium in Stuttgart habe sie darin bestärkt, als freischaffende Künstlerin zu arbeiten. „Deutschland hat mir die Möglichkeit und den Halt gegeben, um mit meiner Musik etwas bewegen und meinen Traum leben zu können“, sagt die lettische Organistin, die seit 2006 mit ihrem deutschen Ehemann und den beiden in Deutschland geborenen Kindern in Berlin lebt.
„Wir haben das große Privileg und Geschenk, zwei Zuhause zu haben“, betont Apkalna. Auch wenn sie nach eigenen Angaben eine „sehr überzeugte lettische Patriotin“ sei, spiele Deutschland eine „äußerst wichtige Rolle“ in ihrem Leben. Dies merke sie etwa jedes Mal, wenn sie nach einer Konzertreise in Berlin am Flughafen ankomme und Deutsch um sich herum höre. „Das ist ein angenehmes Gefühl und vermittelt ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen“, sagt die Organistin, die inzwischen die doppelte Staatsbürgerschaft beantragt hat. Ihre Heimat, schiebt sie aber schnell hinterher, sei einzig und allein Lettland.
Apropos Sprache: Deutsch spricht Apkalna inzwischen fließend – ohne, bis auf einen kurzen Intensivkurs am Goethe-Institut in Riga, größeren Sprachunterricht genommen zu haben. „Ich habe in Stuttgart die Alltagssprache im Fitnessstudio aufgeschnappt und auch viel durch Fernsehschauen gelernt. Der deutsche Entertainer Harald Schmidt war mein erster Deutschlehrer – ich habe seine Show wirklich sehr gemocht“, lacht sie. 2007 haben die beiden zusammen sogar einmal ein Kinderkonzert in der Kölner Philharmonie gegeben. „Es hat allen großen Spaß gemacht“, denkt sie mit Freude daran zurück.
Dies gilt auch für ihre Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie: Apkalna wird bei ihren Konzerten regelmäßig mit Ovationen gefeiert. Die Tiefpunkte und Momente des Zweifelns, die sie manchmal während ihres Studiums in Stuttgart überkamen, sind dann ganz weit weg. „Kein anderes Instrument stellt einen Musiker vor solche Herausforderungen wie eine Orgel“, meint sie. „Daher war das viele Üben und der Unterricht mit den großartigen Professorinnen wirklich Gold wert. Ohne das Stipendium wäre ich vermutlich nicht da, wo ich heute bin.“[1]
[1] Apkalna, I. (2021, 17.12.). Gespräch mit dem Autor.
Die große Idee von der kleinsten Kamera stammte von einem Deutschbalten aus Riga: Walter Zapp erfand vor gut 100 Jahren mit der Minox die Präzisionskamera für Dokumentenfotos und heimliche Schnappschüsse.
Sie gilt als analoges Wunderwerk der Technik: Walter Zapp (1905-2003) fertigte eine kompakte Kleinstbildkamera, die kleiner als eine Zigarre und leichter als ein Feuerzeug war. Bis heute ist die winzige, aber leistungsstarke Minox mit ihrem zukunftsweisenden Design ein Kultobjekt für Fotografen. Obwohl die Kamera nicht mehr produziert wird, mangelt es nicht an Enthusiasten, die ungeachtet des Siegeszugs der Digitalfotografie weiterhin mit ihr arbeiten.
Trotz geringster Abmessungen lieferte die anfangs in Riga und später in Hessen gefertigte Minox gestochen scharfe Aufnahmen – die fingernagelgroßen Negative erlaubten beliebige Vergrößerungen. Die kompakte Kamera avancierte daher auch zum unverzichtbaren Handwerkszeug von Spionen – und zum perfekten Requisit für Agentenfilme. Doch dessen Erfinder, der mit der Minox zu einem Pionier der Fotografie wurde, war davon nicht angetan. Der Ruch von Geheimdienst und Verrat hatte Zapp zeitlebens nie behagt.
Zapp hatte 1922 die Idee, eine Kleinstbildkamera zu erfinden. Damals begann der 1905 in Riga geborene Sohn einer deutschbaltischen Familie eine Ausbildung als Fotograf im benachbarten Estland, wohin die Familie nach seiner Schulzeit übersiedelt war. Seinerzeit waren noch schwere Plattenkameras verbreitet, die zum Unmut des schmächtigen Lehrlings auf hölzerne Stative gewuchtet werden mussten. Deshalb kam Zapp die Idee einer Kleinstbildkamera, die formvollendet „in der geschlossenen Hand verschwindet.“
Doch die Verwirklichung des Vorhabens war schwierig. Durch finanzielle Engpässe immer wieder gebremst, sollte es noch mehrere Jahre dauern, bis die Minox zum Patent angemeldet werden konnte. 1936 gelang dem jungen Konstrukteur der Bau eines funktionsfähigen Prototyps – der „Ur-Minox“ mit optimaler Form: Klein und handlich, aber auch gut und einfach zu bedienen. Auch das staatliche Elektrogerätewerk VEF (Valsts Elektrotehniskā Fabrika) in Riga überzeugten die Probeaufnahmen.
In deren Montagehallen lief zwei Jahre später die erste Minox vom Band und ging in einer überarbeiteten Version mit dem Filmformat 8 x 11 Millimeter am 12. April 1938 in Serienfertigung. Wenig später kam die Minox zusammen mit dem passenden Zubehör in den Handel – und wurde trotz eines stolzen Preises prompt zum Kassenschlager.[1]
Spielzeug für Spione
Die erste Kamera wurde an einen Diplomaten verkauft. „Ich verstand leider sofort, was das im Klartext heißt: Spionage!“, erinnerte sich Zapp Jahrzehnte später in einem Interview. Bei der Konstruktion der Minox hatte er daran gar nicht gedacht, sondern alles nur auf Kleinheit und Miniaturisierung abgestellt. Doch seine „Spionagekamera“ fand reißenden Absatz: Geheimdienste wie CIA und KGB nutzten den Miniapparat für operative Zwecke. Und auch in der Filmwelt wurde die Kamera fleißig genutzt – die Minox tauchte in gut 40 Filmen auf.
Bis Mitte des Zweiten Weltkrieges wurden in der VEF-Fabrik etwa 17 000 Exemplare gefertigt und weltweit vertrieben. Etwa 2 000 davon waren nach dem sowjetischen Einmarsch in Lettland mit „Made in the USSR“ gekennzeichnet. Zapp hatte zu diesem Zeitpunkt seine Heimat aber bereits verlassen und war mit der Ur-Minox, dem Holzentwurf und einem in Riga produzierten Serienmodell in der Jackentasche nach Deutschland geflüchtet. Dort arbeitete er von 1941 bis 1945 bei der AEG in Berlin.
Nach dem Ende der Kriegswirren wagte der Autodidakt einen Neuanfang. Mit einem Geschäftspartner gründete Zapp im September 1945 die Minox GmbH im mittelhessischen Wetzlar. Als finanzielle Teilhaber kamen kurze Zeit später zwei Zigarrenfabrikanten hinzu, Ende 1948 erfolgte der Umzug in die neue Fertigungsstätte in Heuchelheim bei Gießen. Doch bereits zwei Jahre später kam es in der ungleichen Partnerschaft zum Bruch mit den Neugesellschaftern.
Zapp wurde ausgebootet und verließ die Firma – ohne Patent. Am weltweiten Erfolg seiner in verschiedenen Ausführungen gut eine Million Mal verkauften Minox und anderer Modelle hatte der zwar viel technisches Talent, aber nur wenig Geschäftssinn besitzende Erfinder deshalb keinen wesentlichen Anteil mehr. Mit seiner Familie zog er in die Schweiz, wo er sich mit kleineren Aufträgen über Wasser hielt und 2003 verstarb.[2]
Späte Rückkehr nach Riga
Wenige Jahre vor seinem Tod war Zapp Mitte der 1990er Jahre noch einmal als Berater und Konstrukteur zu Minox zurückgekehrt. Zur Jahrtausendwende bereiste er nach 60 Jahren erstmals auch wieder seine alte Heimat. Bei Besuchen in Riga und Tallinn wurde der damals 95-Jährige für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In Lettland erhielt Valters Caps, wie er auf Lettisch genannt wird, die Ehrendoktorwürde der Lettischen Akademie der Wissenschaften, die auch alle zwei Jahre den Walter-Zapp-Preis vergibt. Dem Erfinder des Kleinstfotoapparats bedeutete dies viel. „Mein Herz gehört Lettland. Riga als meiner Heimatstadt. Und das wird bei mir immer so bleiben“, sagte er am Rande der Zeremonie am 3. September 2001.[3]
Auch sonst wird das Andenken an Zapp in Lettland hochgehalten. Im Fotomuseum in der Altstadt von Riga widmet sich ein Teil der Dauerausstellung dem Erfinder und der Entstehungsgeschichte der auch bereits in Sonderschauen präsentierten Minox, die als bedeutendste Errungenschaft Lettlands in der Fotoindustrie gilt.[4] Gezeigt werden die Pläne für die Serienfertigung der Kleinstbildkamera bei VEF. Aus deren ehemaligem Gelände wiederum ist ein Start-Up Hub geworden, in dem man in der Minox Bar Cocktails und den Ausblick über Riga genießen kann.[5]
[1] Welscher, A. (2021). Walter Zapp und seine Minox – Spielzeug für Spione. Deutsche Spuren Lettland. Goethe-Institut Riga. https://www.goethe.de/ins/lv/de/kul/sup/des/22268069.html (zuletzt abgerufen am 07.11.2023). Zu Zapp und Minox siehe auch die NZZ-Dokumentation „Die Minox: Geniestreich und Schicksal“, die unter https://www.youtube.com/watch?v=z6whjgi3Y4M abrufbar ist (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[2] Ebenda.
[3] Ūdris, J. (2001, 5.9.). „Minox“ radītājs Valters Caps: Visu mūžu esmu juties piederīgs Latvijai. [„Minox“-Erfinder Walter Zapp: Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, zu Lettland zu gehören] [Interview]. Latvijas Vēstnesis, Nr. 125 vom 5.9.2001. S. 8. Zur Vergabe der Ehrendoktorwürde siehe auch: Kipere, Z. (2001). Godina MINOX izgudrotāju Valteru Capu. Zinātnes Vēstnesis, Nr. 14 (222) vom 10.9.2001. http://archive.lza.lv/ZV/zv011400.htm (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[4] dpa (2018, 26.1.) Lettisches Fotomuseum zeigt „Die Welt mit Minox“ [Pressemeldung].
[5] Mehr Informationen unter: https://eventspaces.teikums.lv/minox (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
Hansestadt und Ostseeperle. So wirbt die lettische Tourismusbehörde für Riga – und das zu Recht. Die lettische Hauptstadt ist eine Reise wert. Auch für deutsche Politiker und Diplomaten gibt es dort viel zu entdecken.
Kein Riga-Besucher kann sich dem besonderen Charme der Stadt entziehen. Bei vielen deutschen Gästen stand ein Gang durch die Altstadt von Riga oder das Jugendstilviertel auf dem dicht gedrängten Programm – zum Verdruss des Protokolls durchaus schon mal spontan oder länger als vorgesehen. So konnte sich etwa auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (1961-2016) im Juni 2010 bei einem Spaziergang rund um die Alberta iela kaum sattsehen an den prachtvollen Bauten des Art Nouveau. „Riga ist aus meiner Sicht eine der schönsten Städte Europas“, sagte er einmal bewundernd [1] – und wurde wie viele Touristen in Riga zum Hans Guck-in-die-Luft. Den Kopf in den Nacken zurückgelegt, schwärmte er zeitvergessen und begeistert von den üppigen Fassaden der nicht ohne Grund zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Jugendstilhäuser. Mit ihren filigranen Details, ausladenden Verzierungen und dekorativen Verschnörkelungen sind sie ein wahrer Augenschmaus, nicht nur für Architektur-Liebhaber.[2] Sehr angetan war Westerwelle aber auch von einem Besuch im ethnografischen Museum.
Geschichte zum Anfassen: Das Lettische Ethnographische Freilichtmuseum: Im Lettischen Ethnographischen Freilichtmuseum können Interessierte erfahren, wie die Menschen vor Hunderten von Jahren lebten und arbeiteten – es ist eines der größten und ältesten seiner Art in Europa. Zu sehen gibt es weit über 100 detailgetreu rekonstruierte Bauten aus den vier historischen lettischen Gebieten – Kurland, Livland, Semgallen und Lettgallen – vom Ende des 17. Jahrhunderts bis Ende der 1930er Jahre. Auch zahlreiche ausgestellte Haushaltsgegenstände und Werkzeuge machen Lettlands Historie in dem idyllisch an einem See am östlichen Stadtrand Rigas gelegenen Museum im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. Davon konnte sich am 23. August 2012 auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle überzeugen, der auf Einladung von Gastgeber Edgars Rinkēvičs zusammen mit seinen baltischen Amtskollegen das Gelände und die Ausstellung besuchte.[3] |
Auch im vornehmen Stadtteil Mežaparks (Kaiserwald) im Norden Rigas ist der Jugendstil zu Hause. Dort entstand von 1901 an in einer kieferbewachsenen Dünenlandschaft eine Gartenstadt, in der sich das deutschbaltische Großbürgertum ansiedelte. Geprägt wird sie von prächtigen Villen und stilvollen Anwesen im Grünen, die wie die Jugendstilhäuser in der Innenstadt die beiden Weltkriege und die Sowjetzeit erstaunlich gut überstanden haben.[4] Die Paradestücke und Vorzeigebauten liegen in den heute nach Hansestädten benannten Straßen. In der Hamburgas iela etwa befindet sich die Residenz des deutschen Botschafters in Lettland. Gegenwärtiger Hausherr ist Christian Heldt, der lange vor seiner Amtszeit schon einmal bei einem Besuch in Riga die Pracht des Jugendstils zumindest erahnen konnte.
Traumensembles vor der Renovierung
Es war ein unvergesslicher Kurztrip für Christian Heldt. Im Winter 1995 besuchte der gegenwärtige deutsche Botschafter in Lettland zusammen mit seiner Frau zum ersten Mal Riga. „Wir sind damals für ein Wochenende aus Moskau, wo ich an der Deutschen Botschaft tätig war, mit der Bahn angereist und total begeistert gewesen“, erinnert sich der Diplomat. Angetan hatte es den beiden besonders die Jugendstil-Architektur, auch wenn viele der heute aufwändig renovierten und in frischen Farben erstrahlenden Gebäude damals noch in einem bejammernswerten Zustand waren. „Viel Fantasie brauchte es aber nicht, um sich vorzustellen, wie wunderschön es war, wieder werden würde und nun auch geworden ist“, erzählt Heldt. In der Alberta iela konnte er dabei auch einen Blick in die schönen Treppenhäuser und Korridore der Gebäude werfen, der den meisten Besuchern heutzutage verwehrt bleibt. „Die Türen waren unverschlossen und wir haben auch das Innere mancher dieser Traumensembles sehen können. Vieles war darin originalgetreu erhalten und nahezu unverändert. In den Eingangsbereichen blätterten zwar die Tapeten von den Wänden, aber die architektonische Pracht der Deckengewölbe, Aufgänge und Geländer war mehr als sichtbar“, schwärmt der deutsche Botschafter heute noch. „Es war einfach nur schön.[5]“ |
Die ersten vom Jugendstil inspirierten Häuser in Riga wurden damals von deutschbaltischen Architekten errichtet. In der Formensprache orientierten sie sich dabei am Jugendstil in Deutschland und Österreich. Zugleich aber erfasste auch die aufkeimende nationale Bewegung die Baukunst und besonders die lettischen Architekten integrierten vermehrt Elemente der Volksarchitektur in ihre Bauten. Daraus ergab sich eine architektonische Synthese, die in einer neuen Strömung und Spielform mündete. „Der Rigaer Jugendstil, der deutsche mit lettischen Kulturelementen verbindet, ist in seiner Gesamtheit eine einzigartige Erscheinung und ein bedeutender Teil des weltweiten Architekturerbes“, meint der renommierte lettische Architekturhistoriker Jānis Krastiņš, der zahlreiche Beiträge und Standardwerke zur Bau- und Architekturgeschichte verfasst hat. Nachzulesen ist darin, dass auch andernorts deutschbaltische Architekten entscheidend das Stadtbild prägten.[6]
[1] Westerwelle, G. (2012, 23.8.). Eingangsstatement auf der Pressekonferenz nach dem 3+1-Treffen mit seinen baltischen Amtskollegen in Riga. [Mitschnitt des Autors].
[2] Zum Jugendstil in Riga und dessen Ausprägungen siehe: Krastiņš, J. (2012). Rīgas jūgendstila ēkas: Ceļvedis pa jūgendstila metropoli | Art Nouveau Buildings in Riga: A Guide to Art Nouveau Metropolis. Rīga: Add projekts.
[3] Mehr Informationen zum Museum unter: http://brivdabasmuzejs.lv/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[4] Zur Geschichte des Stadtteils siehe ausführlich: Kupffer, E. (1908). Die Villenkolonie Kaiserwald bei Riga. Jahrbuch für bildende Kunst in den Ostseeprovinzen. Jahrgang II (1908). S. 122-130 und Krastiņš, J. (1997). Mežaparks. Rīga: Zinātne.
[5] Heldt, C. (2022, 15.1.). Gespräch mit dem Autor.
[6] Krastiņš, J. (2013). Tausend Jahre Nachbarschaft: Verbindungen zwischen Lettland und den Deutschen auf dem Gebiet der bildenden Kunst und der Architektur. In: Deutsche Architekten in Lettland/ Vācu Arhitekti Latvijā. Verband der Deutschen in Lettland / Latvijas Vācu Savienība (Hrsg.). S. 35.
Abgeordneter in den vier ersten Parlamenten und vielgelesener Publizist: Paul Schiemann war in den 1920er und 1930 Jahren zweifellos der einflussreichste deutsche Politiker in Lettland.
Seine Entwürfe prägen die zeitgenössische Architektur: Meinhard von Gerkan war einer der erfolgreichsten deutschen Architekten und weltweit tätig. Besonders nahe steht ihm aber seine lettische Heimat.
Ein paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Sommeridyll am Ostseestrand und ein paar Familienfotos, der Geburts- und Taufschein und mehrere alte Briefe – es waren nur wenige Erinnerungsstücke, die Meinhard von Gerkan (1935-2022) aus seinen jüngsten Kindheitstagen geblieben sind. Dennoch fühlte sich der in Riga geborene Stararchitekt seiner Heimatstadt eng verbunden, die er als Vierjähriger verlassen musste. Regelmäßig reiste er in die lettische Ostseemetropole – zur Spurensuche und natürlich auch für Bauprojekte.
„Es scheint eine innere Verbindung zu geben, die sehr prägend für ihn gewesen ist“, meint von Gerkan-Biograf Jürgen Tietz. Wenn immer der Architekt in Riga gewesen sei oder über die lettische Hauptstadt geredet habe, seien ihm seine Heimatgefühle anzusehen gewesen. Ebenso habe von Gerkan immer mit einer besonderen Herzenswärme und Zuneigung über seine Projekte in Lettland gesprochen, die sich wie alle seine Werke durch eine hohe Funktionalität und bestechende Ästhetik auszeichnen.[1]
Eigene Erinnerungen an seine Kindheitsjahre in Riga hatte von Gerkan kaum. Er selbst sprach einmal von „vielen vielleicht unterbewusst verdeckten Bildern“ seiner ganz frühen Jugend, die bei seinen Besuchen in Lettland aufgeweckt wurden. Besonders galt das am Strand von Jūrmala – in dem Ostseebad vor den Toren Rigas hatte die Familie des jungen Meinhards damals ihr Sommerhaus. Doch 1939 wurde sie wie viele andere Deutschbalten zwangsumgesiedelt.[2]
Weltweiter Erfolg und Rückkehr nach Riga
Nach dem Krieg wuchs von Gerkan als Vollwaise in einer Pflegefamilie in Hamburg auf, studierte erst Jura und Physik, ehe er zur Architektur wechselte. Zusammen mit seinem Studienkollegen Volkwin Marg gründet er 1965 das Architekturbüro gmp, das sich aus einem Zwei-Mann-Betrieb mit anfänglichen Kleinanzeigen-Reklamen im Hamburger Abendblatt („Architektenzeichnungen fertigen billigst, Tel.: 451026“) zu einem global agierenden und weltweit erfolgreichen Unternehmen entwickelte, das internationale Maßstäbe setzt. 500 Mitarbeiter an sieben Standorten von Hamburg bis Shanghai, fast 600 gewonnene Architekturwettbewerbe und mehr als 550 realisierte Projekte in über 20 Ländern – beeindruckende Zahlen.[3]
Gleich mit ihrem ersten Bauprojekt landeten sie einen Welterfolg: Ein Jahr nach dem Diplom erhielten sie als „absolute Nobodys“, wie es von Gerkan einmal selbst ausdrückte[2], in einem weltweit offenen Verfahren den Zuschlag für den Berliner Flughafen Tegel, der bei vielen bis heute Kultstatus genießt als „Flughafen der kurzen Wege“. Zahlreiche weitere einzigartige Bauwerke in aller Welt folgten – auch in Lettland. Ausschlaggebend dafür war eine Anfrage von Leons Jakrins. Der lettische Unternehmer wollte den berühmten Architekten Mitte der 1990er Jahre für Projekte in Riga gewinnen – nichtwissend, dass dieser in der Stadt geboren worden war.
Von Gerkan sagte sofort zu. „Es wäre für mich ein ‚Traum’“, schrieb er zurück. „Ja, ich mache es mit Begeisterung.“ Daraus entwickelte sich eine langjährige Zusammenarbeit und Partnerschaft, die für von Gerkan zu einer „Art emotionaler Rückkehr“ wurde, wie es Jakrins einmal umschrieb.[5] Bereits 1988 war von Gerkan zum ersten Mal wieder nach Riga zurückgekehrt. Vergeblich versuchte er bei Taxifahrten aus Kindheitserinnerungen die Orte der frühen Kindheit wiederzuerkennen. Auch in Archiven forschte er erfolglos nach seinem Elternhaus. Erst viele Jahre später konnten Bekannte die Adresse und das Gebäude in der heutigen Eduarda Smiļģa iela ausfindig machen.[6]
Enge Verbundenheit mit Lettland
Verborgen hatte von Gerkan seine Herkunft und Wurzeln nie. Deutlich war ihm ein deutschbaltischer Akzent anzuhören. Stets verwies er bei Besuchen in Riga darauf, dass er in der Petrikirche getauft worden war. Dort wurden ihm im November 2015 bei der Eröffnung einer Ausstellung von architektonischen Entwurfszeichnungen, die anlässlich seines 80. Geburtstags und des 50. Geburtstags von gmp in der Petrikirche gezeigt wurden, historische Passkopien seiner Mutter überreicht.[7]
Auch die Ostsee und Natur von Jūrmala prägten seine Empfindungen. Sichtbar wird das insbesondere bei seinen Arbeiten in Lettland. Mit der Villa Guna ist darunter auch ein Projekt, das nach Ansicht von Tietz zu den Hauptwerken im Schaffen von Gerkans gezählt werden könne. Der markante kubistische Bau inmitten eines Kieferwalds am Ostseestrand war ein individuell entworfenes Geschenk für seine lettischen Geschäftspartner und Freunde, das der Architekt selbst als eines seiner zwei herausragenden Lieblingsprojekte bezeichnete.[8]
Mit viel Herzblut realisierte der Schöpfer weltbekannter Bauten auch seine weiteren Entwürfe, mit denen er sich baulich in seiner Geburtsstadt und in Jūrmala verewigte und einen Beitrag zum gesamten Architekturwesen Lettlands leistete. Dazu zählen mehrere Wohnhäuser oder ein Bankgebäude am Ufer der Daugava.[9] Auch war es ihm bei seinen Besuchen in Lettland trotz seines notorisch vollen Terminkalenders stets ein Anliegen, seine Erfahrungen an die jüngere Generation weiterzugeben. Für seine Verdienste wurde von Gerkan im November 2021 in der lettischen Botschaft in Berlin das Anerkennungskreuz des lettischen Staates verliehen.[10]
„Wir erlebten ihn als einen aufgeschlossenen, bodenständigen und geistreichen Menschen, der auch sein lettisches Element immer bewusst in sich trug“, schrieb die lettische Botschaft nach seinem Tod am 30. Dezember 2022 auf der damals noch als Twitter bekannten Online-Plattform X. „Er hinterlässt ein beeindruckendes Architekturerbe, an dem wir uns noch lange erfreuen können.“[11]
[1] Tietz, J. (2015, 27.11.). Gespräch mit dem Autor. Siehe dazu auch: Welscher, A. (2016, 1.4.). Heimkehr eines Architekten: Von Gerkan auf Spurensuche in Riga [dpa-Autorenbericht].
[2] Von Gerkan, M. (2015, 27.11.). Gespräch mit dem Autor. Siehe dazu auch: Welscher, A. (2016, 1.4.). Heimkehr eines Architekten: Von Gerkan auf Spurensuche in Riga [dpa-Autorenbericht] und ausführlich zu von Gerkans Kindheit: Tietz, J. (2015). Meinhard von Gerkan – Vielfalt in der Einheit / Biografie in Bauten 1965 - 2015. Die autorisierte Biografie. Jovis Verlag.
[3] Zur Geschichte und den Projekten von gmp siehe: https://www.gmp.de/de/
[4] Kraft, B. (2020). gmp ist ...? ... vom Einfachen das Beste. Im Gespräch mit Meinhard von Gerkan, gmp, Hamburg [Interview]. DBZ – Deutsche Bauzeitschrift. Ausgabe 02/2020. https://www.dbz.de/artikel/dbz_gmp_ist_..._..._vom_Einfachen_das_Beste_Im_Gespraech_mit_Meinhard_von-3490871.html (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[5] Lūse, A. (2013). Arhitekts Meinhards fon Gerkāns Latvijā | Architekt Meinhard von Gerkan in Lettland. Zvaigzne ABC. S. 46 ff.
[6] Von Gerkan, M. (2015, 27.11.). Gespräch mit dem Autor. Siehe dazu auch: Welscher, A. (2016, 1.4.). Heimkehr eines Architekten: Von Gerkan auf Spurensuche in Riga [dpa-Autorenbericht).
[7] Zur Ausstellung siehe ausführlich: https://www.gmp.de/de/aktuelles/5189/ausstellungen/6795/aus-freier-hand-meinhard-von-gerkan-50-jahre-architektur-in-zeichnungen-und-skizzen (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[8] Tietz, J. (2015, 27.11.). Gespräch mit dem Autor; Kraft, B. (2020). gmp ist ...? ... vom Einfachen das Beste. Im Gespräch mit Meinhard von Gerkan, gmp, Hamburg [Interview]. DBZ – Deutsche Bauzeitschrift. Ausgabe 02/2020. https://www.dbz.de/artikel/dbz_gmp_ist_..._..._vom_Einfachen_das_Beste_Im_Gespraech_mit_Meinhard_von-3490871.html (zuletzt abgerufen am 16.11.2023). Zur Villa Guna siehe ausführlich: https://www.gmp.de/de/projekte/497/villa-guna (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[9] Eine Übersicht über die Projekte in Lettland findet sich in der Buchbroschüre „Der Architekt Meinhard von Gerkan. Seine Bauten in und um Riga – Sammlung realisierter und geplanter Projekte“.
[10] Lettische Botschaft in Berlin (2021, 10.11.). Vēstniece Inga Skujiņa arhitektam Meinhardam fon Gerkānam Hamburgā pasniedz Atzinības krustu [Botschafterin Inga Skujiņa überreicht in Hamburg das Anerkennungskreuz an den Architekten Meinhard von Gerkan]. Lettische Botschaft in Berlin. https://www2.mfa.gov.lv/berlin/aktualitates/68688-vestniece-inga-skujina-arhitektam-meinhardam-fon-gerkanam-hamburga-pasniedz-atzinibas-krustu (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[11] Beileidsbekundung (2022, 2.12.). Plattform X (vormals Twitter). Lettische Botschaft in Berlin. https://x.com/LettlandinDE/status/1598637509939978241 (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
Die Legenden, Abenteuer und Märchen des „Lügenbarons“ Münchhausen kennt wohl fast jeder. Einige davon soll er – keine Lüge – in Dunte erlebt haben. Sechs Jahre lebte er dort mit seiner ersten Frau.
Mit einer Meerschaumpfeife im Mund und einem Glas Punsch in der Hand gab Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1797) in geselliger Runde gerne abenteuerliche Geschichten aus seiner Zeit im russischen Regiment zum Besten, die er mit überbordender Fantasie auszuschmücken wusste. Als Schwärmer und Schwätzer mit uferloser Freude am Fabulieren, der in seinen märchenhaft ausgeweiteten Erzählungen Traum von Wirklichkeit nicht immer zu unterscheiden wusste, erlangte er Weltruhm. Seine Geschichten kennt heute noch fast jedes Kind – es gibt in rund 50 Sprachen übersetzte Bücher, liebevoll illustrierte Bildergeschichten und viel beachtete Filme[1].
Die Erzählungen speisten sich aus seinem Lebensweg und den Erlebnissen auf seinen Reisen und während seiner Militärzeit. Einige davon erlebte er vermutlich in Dunte im heutigen Lettland. Dort hatte Münchhausen einst die Liebe seines Lebens gefunden. Bei einem Jagd-Ausflug in dem nur einen Kanonenkugelritt von Riga entfernten Ort an der Ostsee hatte er seine erste Frau Jacobine von Dunten kennengelernt, die Tochter eines deutsch-baltischen Landadeligen.[2]
Leben und Liebe in Lettland
Münchhausen war seinerzeit als Offizier in der damals zum Russischen Zarenreich gehörenden Garnisonsstadt Riga stationiert. Als junger Adelsspross und Edelknabe am Hof des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel hatte er zuvor das Abenteuer gesucht. Mit 17 Jahren ging er im Gefolge des herzoglichen Hofes nach Sankt Petersburg, nahm am russisch-türkischen Krieg teil und diente später von 1740 an als Soldat der Zarenarmee in Riga.[3]
Getraut wurde das Paar am 2. Februar 1744 in der Kirche von Pernigel, dem heutigen Liepupe nahe Dunte, an deren Turmspitze Münchhausen an einem schneereichen Winterabend einmal sein Pferd angebunden haben will. Nachdem die weiße Pracht über Nacht schmolz, musste er seinen Gaul am nächsten Morgen mit einem gezielten Schuss vom zuvor meterhoch mit Schnee bedeckten Kirchturm herunterholen – so zumindest schildert es Münchhausen in seinen „Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande“.[4]
Auch andere seiner berühmten Abenteuer soll der Erzähler der „Münchhausiaden“ in Dunte erlebt haben, wo er sechs Jahre auf dem livländischen Gutshof der Familie seiner Frau gelebt hat. Im Andenken daran wurde am 32. Mai 2005 dort die „Minhauzena pasaule“ – lettisch für „Münchhausens Welt“ – im wieder aufgebauten Gutshaus eingerichtet. Es ist das zweite Münchhausen-Museum der Welt – nach jenem in seinem niedersächsischen Geburts- und Sterbeort Bodenwerder.[5]
Münchhausen-Museum und -Wanderpfad
Im Museum zeigt eine lebensgroße Wachsfigur, wie Münchhausen mit an einer Leine gebundenem Speck einst zehn Enten gefangen haben soll. Auch die Jagdgeschichten mit dem Fuchs, den er mit einem Nagel an dessen Schwanz am Baum festschoss, oder dem Hirsch mit Kirschbaumgeweih könnten sich während Münchhausens Zeit in Dunte zugetragen haben. Andere Abenteuer sind auf einem kilometerlangen Wanderpfad im Wald neben dem Museum mit geschnitzten Holzskulpturen nachgestellt.
Im Gutshaus selbst gibt es das Boudoir von Jakobine und das Jagdzimmer von Münchhausen zu sehen, im Großen Saal werden unzählige Erinnerungsstücke ausgestellt: Bücher und Nachdichtungen in verschiedenen Sprachen, historische Dokumente und Objekte aus Münchhausens Leben und seinen Erzählungen. Drei der alten Eichen auf dem Anwesen soll der Freiherr sogar noch selbst gepflanzt haben. Ungelogen![6]
[1] Welscher, A. (2020). 300 Jahre Münchhausen: Weltberühmter Aufschneider. Goethe-Institut Riga. https://www.goethe.de/ins/lv/de/kul/sup/des/22022614.html (zuletzt abgerufen am 07.11.2023).
[2] Welscher, A. (2021). Dunte: Wo der „Lügenbaron“ die Liebe seines Lebens fand. Deutsche Spuren Lettland. Goethe-Institut Riga. https://www.goethe.de/ins/lv/de/kul/sup/des/22268159.html (zuletzt abgerufen am 07.11.2023); Ulmis, J. (2006). Hieronīms Kārlis Frīdrihs fon Minhauzens un viņa pasaule | Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen. In: Zilgalvis, J.; Plešs, G. und Ulmis, J. (Hrsg.). Duntes muiža un barons Minhauzens | The Dunte Baronial Estate and Baron Münchhausen. AGB. S. 57-80 | S. 100-107.
[3] Ebenda
[4] Welscher, A. (2020); Ulmis, J. (2006).
[5] Welscher, A. (2013, 13.9.). Dunte - Münchhausen-Museum in Lettland: Wo der „Lügenbaron“ einst lebte [dpa-Autorenbericht). Zur „Minhauzena pasaule“ siehe ausführlich: https://minhauzens.lv/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[6] Welscher, A. (2013, 13.9.); Plešs, G. (2006). Interjera koncepija vai pieskāriens 18. gadsimtam | The Concept of the Interior – a Wispher of the 18th Century. In: Zilgalvis, J.; Plešs, G. und Ulmis, J. (Hrsg.). Duntes muiža un barons Minhauzens | The Dunte Baronial Estate and Baron Münchhausen. AGB. S. 33-56 | S. 92-99.
Mehr als 50 Jahre hat sich der Kunsthistoriker Imants Lancmanis der Restaurierung des größten Barockschlosses im Baltikum gewidmet. Schloss Rundāle ist sein Lebenswerk - und ein beliebtes Touristenziel.
Wenn Imants Lancmanis sichtlich erhaben durch das Schloss Rundāle führt, klingt Stolz in seiner Stimme mit. „Überall bröckelte der Putz von den Wänden, das Interieur war verschwunden und die Deckengemälde in ganz traurigem Zustand. Doch nach und nach haben wir alles so wiederhergestellt wie es einmal war“, sagt der langjährige Direktor des rund 80 Kilometer südlich von Lettlands Hauptstadt Riga gelegenen zweistöckigen Palastes im Barockstil. Mehr als 50 Jahre widmete sich der Kunsthistoriker der Restaurierung des Schlosses, das auch als „lettisches Versailles“ bezeichnet wird. Dass der frühere Sommersitz des kurländischen Herzogs Ernst Johann von Biron aus dem 18. Jahrhundert wieder in alter Pracht erstrahlt, ist vor allem sein Verdienst.
„Ich bin unendlich glücklich, dass es uns gelungen ist, das Schloss vollständig zu restaurieren und es sogar noch schöner geworden ist, als ich mir damals erträumt hatte“, sagt der Ende 2018 in Rente gegangene Lancmanis. Seit 1964 kümmerte er sich um das mit 138 Räumen größte Barockschloss im Baltikum, von dessen einstiger Pracht Revolutionen, Kriege und Kommunismus nur wenig übrig gelassen hatten. „Aber die Substanz war vorhanden. Und das ist es, was unser Schloss so wertvoll macht – es ist authentisch.“
Entworfen wurde der großzügig angelegte Palast vom russisch-italienischen Baumeister Bartolomeo Francesco Rastrelli, von dem auch der Winterpalast der Ermitage in Sankt Petersburg stammt. „Einst kam hier alles zusammen: sehr viel Geld, große Ambitionen und hervorragende Künstler ihres Fachs“, erzählt Lancmanis mit leuchtenden Augen bei einem Rundgang durch das architektonisch-kunsthistorische Kleinod.[1]
Von Nebenjob zur Lebensaufgabe
Lancmanis studierte damals Malerei an der Kunstakademie in Riga, als er gefragt wurde, ob er sich nicht des verfallenen Schlosses annehmen wolle. Mehrfache Besitzerwechsel, Plünderungen und zwei Weltkriege hatten deutliche Spuren in dem zu Sowjetzeiten auch als Schule und Getreidespeicher genutzten Prachtbau hinterlassen, dessen Name sich vom einstigen deutschen Ortsnamen Ruhenthal ableitet. Dennoch sagte der sich schon als Kind für Burgen und Schlösser begeisternde Lancmanis zu.
Und was eigentlich als Nebenjob gedacht war, wurde im wahrsten Sinne des Wortes zum Lebenswerk des jungen Künstlers, der anfangs mit seiner Frau einige Jahre im baufälligen Schloss lebte und bei der Denkmalpflege selbst mit Hand anlegte. „Zum Glück wir waren jung – nur so konnten wir das überstehen. So gab es keine Toilette, sondern nur ein Holzhäuschen im Garten. Natürlich kein Wasser und auch die Beheizung war nur ein Ofen aus der Vorkriegszeit, der schlecht funktionierte. Jetzt kann ich mich darüber lustig machen. Damals war das manchmal aber nicht so zum Lachen“, denkt er an die Anfänge seiner Tätigkeit zurück.[2]
Raum für Raum wurde die Residenz restauriert – mit natürlichen Materialien wie im 18. Jahrhundert. Häufig waren die Mittel knapp. Doch durch den Hinweis darauf, dass das Schloss ein Bauwerk des Hofarchitekten der russischen Zarin Elisabeth ist, konnte sich schon zur Sowjetzeit Geld locker machen lassen. Nach der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands 1991 engagierten sich auch Kunstmäzene. Insgesamt wurden mehr als 8 Millionen Euro investiert.
Prunkschloss mit Deutschland-Bezügen
Die ersten restaurierten Räume wurden 1981 wieder für Besucher geöffnet, später wurden bis zum Abschluss der Arbeiten 2014 nach und nach auch die anderen Räume der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Rund 250 000 Touristen besuchen im Schnitt jährlich Schloss Rundāle, das auch für Staatsempfänge und als Filmkulisse genutzt wird. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und zwölf seiner EU-Amtskollegen kamen dort etwa 2018 zum Treffen der sogenannten „Arraiolos-Gruppe“ nicht regierender Staatsoberhäupter zusammen, Oscar-Preisträgerin Helen Mirren stand im Schloss für eine Mini-Serie über Katharina die Große vor der Kamera.
Die Lust am Prunk zeigt sich in allen Ecken des Schlosses und auch der prachtvollen Parkanlage. Abgesehen von zwei historischen Öfen und einem von einem deutschen Sammler vermachten Bibliotheksschrank ist von der Originaleinrichtung allerdings nichts mehr erhalten. Dafür vermitteln aus aller Welt zusammengetragenes antikes Mobiliar, Bilder und Kunstgegenstände einen Eindruck vom damaligen Leben am Hof. „Wir kennen den Geschmack und auch die Sammlungen der Herzöge von Kurland“, erzählt Lancmanis.[3]
Immer wieder verweist der fließend Deutsch sprechende Kunsthistoriker auch auf die Bezüge zu Deutschland. So befinde sich etwa ein einst im Schloss hängendes Rembrandt-Bild heute in der Hamburger Kunsthalle. Umgekehrt habe ein nach alten Vorlagen angefertigtes Tafelservice, das 1790 vom Herzog von Kurland bei der Berliner Porzellanmanufaktur KPM bestellt wurde, als Gastgeschenk den Weg nach Rundāle gefunden. Im Schloss ausgestellt sind auch deutsch-baltische Kulturgegenstände aus Kirchen und alten Herrenhäusern in Lettland, die Lancmanis zu Sowjetzeiten vor Plünderung und Zerstörung rettete.
Im Unruhestand
Für sein Wirken wurde der renommierte Kunstexperte mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz. „Wer bei ihm persönlich in Ruhenthal zu Gast war, verließ das Schloss in der Überzeugung, ein bemerkenswertes, atemberaubendes Vorhaben und einen außergewöhnlichen Menschen kennengelernt zu haben“, würdigte der damalige Direktor der Schlösser und Sammlungen der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Burkhardt Göres, den lettischen Kunsthistoriker 2007 in seiner Laudatio bei der Vergabe des Georg Dehio-Kulturpreises.[4]
Im Ruhestand widmete sich Lancmanis zunächst mehreren unvollendeten Publikationsprojekten und Ausstellungskatalogen. Zugleich wandte er sich verstärkt wieder einer seiner Vorlieben zu, die er aufgrund der intensiven Arbeit in Rundāle oftmals hintanstellen musste. „Die Malerei ist die Wunderwelt, in der ich schwimme und in der ich mich außerordentlich wohl fühle“, sagte er Ende 2022 anlässlich der Eröffnung einer Einzelausstellung mit seinen Werken im Lettischen Nationalen Kunstmuseum.[5]
[1] Lancmanis, I. (2018, 26.8.). Gespräch mit dem Autor. Siehe dazu auch: Welscher, A. (2018, 12.11.). Genug renoviert: Schlossherr des „lettischen Versailles“ geht in Rente [dpa-Autorenbericht].
[2] Ebenda.
[3] Ebenda.
[4] Der Text der Laudatio ist abrufbar unter: https://www.kulturforum.info/de/preise-stipendien/georg-dehio-kulturpreis/3710-feierliche-verleihung-des-georg-dehio-kulturpreises-an-dr-h-c-imants-lancmanis-und-die-redaktion-des-deutsch-polnischen-magazins-dialog (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
[5] Zēgnere, I. (2022, 19.11.). Imants Lancmanis: Glezniecība ir tā brīnumpasaule, kurā peldu un jūtos ārkārtīgi labi [Imants Lancmanis: Die Malerei ist die Wunderwelt, in der ich schwimme und in der ich mich außerordentlich wohl fühle]. [Interview]. klasika.lsm.lv. https://klasika.lsm.lv/lv/raksts/diena-sakusies/imants-lancmanis-gleznieciba-ir-ta-brinumpasaule-kura-peldu-un-j.a168967/ (zuletzt abgerufen am 16.11.2023). Zur Ausstellung siehe: https://www.lnmm.lv/latvijas-nacionalais-makslas-muzejs/izstades/imanta-lancmana-maksla-453 (zuletzt abgerufen am 16.11.2023).
Tatzen hoch für Lettland: Zum 100. Geburtstag Lettlands war in Riga der Bär los – auch weil Deutschland mit einem besonders Geschenk zum runden Staatsjubiläum gratulierte: einer Bärenparade auf dem Domplatz in Riga. Fein säuberlich aufgereiht standen 149 bunte Berliner Buddy-Bären nebeneinander und im Halbkreis auf einem der zentralen Plätze in der Altstadt der lettischen Hauptstadt. Die lebensgroßen und freundlich wirkenden Skulpturen wurden zu einer der größten Attraktionen im Sommer 2018 und waren ein beliebtes Fotomotiv für Rigenser und ihre Gäste.
„Wer Geburtstag feiert, bekommt von guten Freunden ein Geschenk. Wer einen großen runden Geburtstag feiert, bekommt von Freunden ein großes Geschenk. Wer einen ganz großen runden Geburtstag feiert, bekommt von Freunden ein ganz großes Geschenk“, betonte Rolf Schütte. Der damalige deutsche Botschafter in Lettland holte mit Sponsoren-Hilfe die inzwischen weltweit bekannte Ausstellung „United Buddy Bears“ vom 14. Juli bis 22. August 2018 nach Riga. „Dies ist ein wunderbares Geschenk zu unserer Hundertjahrfeier“, freute sich die lettische Kulturministerin Dace Melbārde bei der Eröffnung der Bärenschau.
Die Bären sind bereits seit 2002 weltweit auf Tour, um für Völkerverständigung und Toleranz zu werben. Ein Jahr zuvor waren sie als Kunstprojekt und Attraktion in Berlin entstanden – sie sind dem Wappentier und Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt nachempfunden. Jeder Buddy Bär repräsentiert einen Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen und wurde von einem Künstler eines anderen Landes gestaltet. So durfte auf dem Deutschland-Bär etwa das Brandenburger Tor natürlich nicht fehlen. Der Lettland-Bär von Kaspars Zariņš sollte Glück und optimistische Gefühle ausdrücken. Besonders beliebt war der von lettischen Schülern eigens für die Ausstellung gestaltete Riga-Bär, der auch nach der sechswöchigen Bärenparade in der lettischen Hauptstadt verblieben ist.
Geschätzt mehrere Hunderttausend Besucher haben die Bär-linale unter freiem Himmel besichtigt, die einem guten Zweck diente – es wurde damit für eine Stiftung der Kinderklinik in Riga gesammelt.
Die Bären waren das größte, aber bei weitem nicht das einzige deutsche Geschenk zum Staatsjubiläum. Auch Musikliebhaber kamen auch ihre Kosten – bei Gastauftritten von drei deutschen Spitzenorchestern. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gastierte auch das Gewandhausorchester Leipzig in Lettland – jeweils unter der Leitung von lettischen Dirigenten: Mariss Jansons (1943-2019) und Andris Nelsons. Beide gehör(t)en zu den ganz Großen ihrer Zunft und führ(t)en die beiden Klangkörper weltweit zu musikalischen Erfolgen.
Bei den Auftritten in ihrer Heimat vor ausverkauftem Haus wurden Jansons und Nelsons gefeiert wie Popstars, die lettische Presse überschlug sich mit höchstem Lob. Doch auch für die beiden Orchester waren die Gastspiele alles andere als Standardtermine. „Was für ein ganz besonderer, familiärer Geist hier heute Abend“, twitterte das Gewandhausorchester Leipzig nach dem Gastspiel am 13. Oktober in der Lettischen Nationaloper. Und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks schrieb: „Standing Ovations nach einem denkwürdigen Konzert!“
Last but not least trat auch noch das Konzerthausorchester Berlin zusammen mit der mehrfach ausgezeichneten Elbphilharmonie-Titularorganistin Iveta Apkalna in Lettland auf. „Mit Iveta Apkalna in ihrer Heimat aufzutreten, war eine besondere Erfahrung und der Saal voller Energie“, schrieben die Musiker nach dem begeisternd aufgenommenen Auftritt am 28. September in der Kleinen Gilde in Riga in ihrem Blog. Unmittelbar vor dem Konzert hatte ein Streichquartett des Orchesters die Feier der Deutschen Botschaft zum Tag der Deutschen Einheit musikalisch eröffnet – mit den Hymnen Deutschlands, Lettlands und der Europäischen Union.